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Gyne 01/2021 – Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext

Gyne 01/2021

Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext

Autorin:

Dr. med. Julia Schwerdtfeger

Einleitung

Haben Sie mal versucht, in einer beruflich oder privat schwierigen Lebenssituation ein paar Sätze über ein schönes Erlebnis aus Ihrem Leben handschriftlich auf ein Blatt Papier zu bringen? Probieren Sie es einfach und schauen Sie, was passiert.

Konkrete Schreibimpulse wie diese Anfangsübung sind zentrale Inhalte des kreativen therapeutischen Schreibens. Die Methode bietet eine Möglichkeit, stressvolle und konfliktbeladene Lebensphasen zu bewältigen, konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen und neue Kraftimpulse für sich selbst zu gewinnen. Schreibtherapie ist ebenso wie andere kreative Therapierichtungen (Kunst-, Musik- und Tanztherapie) erlebnisorientiert. Im kreativen Gestalten öffnen sich Räume für neue Fähigkeiten und Erkenntnisse. Künstlerische Therapien sprechen Menschen auf einer sinnlichen Ebene an und können wirkungsvoll helfen, seelische Kräfte freizusetzen und den individuellen Handlungsspielraum zu vergrößern.

Mit geschriebenen Worten lassen sich Bilder erschaffen, die auf unsere innere Welt wirken und die persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten erweitern. Die kreative Schreibtherapie hat einen verstärkenden Effekt auf reselienzfördernde Faktoren wie Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein und realistischen Optimismus bei Menschen in und nach Krisensituationen. Außerdem lassen sich die geschriebenen Texte immer wieder nachlesen und werden somit zu einer persönlichen Ressource, auf die jederzeit zurückgegriffen werden kann. Das therapeutische Schreiben hilft, sich auch in schweren Zeiten positiven Aspekten des eigenen Lebens zuzuwenden und sich durch neu gewonnene Stärken und Kompetenzen weiterzuentwickeln.

Wer profitiert vom kreativen Schreiben?

Im ärztlichen Berufsalltag haben wir oft mit PatientInnen und deren Angehörigen in schwierigen Lebensumständen zu tun. Seien es schwere Erkrankungen oder Krisen- und Konfliktsituationen durch traumatische Erfahrungen oder Schicksalsschläge, die die Menschen oftmals völlig unerwartet treffen und das gesamte Leben ins Wanken bringen können.

Gefühle wie Ohnmacht, Verzweiflung, Wut, Traurigkeit, unterschied- liche Ängste und depressive Ver- stimmungen sind häufige Reaktionen, die in psychosomatisch/psychotherapeutisch ausgerichteten Gesprächen neben den medizinischen Erörterungen über Diagnostik-und Therapiekonzepte eine große Rolle spielen.

Viele Forschungsergebnisse aus den letzten 10–15 Jahren – wie u. a. Pennebaker [1], Unterholzer [2], Haußmann und Rechenberg-Winter [3], Heimes [4] – belegen, dass kreatives Schreiben bei der Wiederherstellung der psychischen Gesundheit einen wichtigen Faktor darstellen kann. Auch körperliche Beschwerden lassen sich mit dieser Therapieform lindern, wie die Ärztin und Schreibtherapeutin Silke Heimes [5] in ihren Untersuchungen eindrucksvoll schildert.

Der Schreibworkshop

Meine eigenen Erfahrungen als Schreibtherapeutin beziehen sich bisher hauptsächlich auf die Arbeit mit an Krebs erkrankten Menschen, zum Beispiel in Workshops bei der Niedersächsischen Krebsgesellschaft in Hannover. Für die Teilnahme an einem Schreibworkshop (6–10 Personen, 90 Minuten pro Sitzung) sind keinerlei Vorkenntnisse oder Schreiberfahrungen erforderlich. Anfängliche Zweifel der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, nicht gut genug schreiben zu können und ohne Idee vor dem weißen Blatt Papier zu sitzen, lassen sich mit dem Hinweis, dass es hierbei überhaupt nicht um einen literarischen Anspruch im eigentlichen Sinne geht und dass man nichts falsch machen kann, schnell ausräumen.

Als Gruppenleiterin ist es meine Aufgabe, den teilnehmenden Personen und den von ihnen verfassten Texten Empathie und Wertschätzung entgegen zu bringen und nicht anhand einer literaturkritischen Skala zu bewerten. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen schreiben vor allem für sich selbst und können nach jeder Schreibübung für sich entscheiden, ob sie den geschriebenen Text in der Gruppe vorlesen möchten oder nicht. Meiner Erfahrung nach geschieht es aber nur recht selten, dass jemand nicht vorlesen möchte. Meist besteht der Wunsch und oft sogar eine Vorfreude, auch zu hören, was die anderen zu einem bestimmten Thema geschrieben haben. Denn die Vorleserunde hat ausgeprägte gruppend namische Wirkungen, stärkt die Identifikation mit der Gruppe und das Gefühl, aufgehoben zu sein und geschätzt zu werden.

Konzeptionell beziehe ich mich zum einen auf die Methode des gesundheitsfördernden kreativen Schreibens, die von den beiden Schreibtherapeutinnen Susanne Diehm und Jutta Michaud [6] entwickelt wurde und seit vier Jahren u.a. an der Charite in Berlin für an Eierstockkrebs erkrankte Frauen in Workshops angeboten wird. Des Weiteren haben mich die Studien der Ärztin und Schreibtherapeutin Silke Heimes [4] und der Schreibwissenschaftlerinnen und Schreibcoaches Renate Haußmann und Petra Rechenberg-Winter [3] in meiner eigenen schreibtherapeutischen Arbeit beeinflusst. Nicht zuletzt sind die phantasievollen Schreibideen der Filmregisseurin und Autorin Doris Dörrie [7] sehr inspirierend.

Schreibimpulse

Anhand von vier Beispielen möchte ich einen konkreten Eindruck vermitteln, was gesundheitsförderndes Schreiben im Detail bedeutet:

Gute-Laune-ABC-Darium
Als Aufwärmübung zu Beginn einer Sitzung eignet sich z. B. ein „Gute-Laune-ABC-Darium“. Die Buchstaben des Alphabetes werden untereinander geschrieben und zu dem Motto „Was mich immer in gute Laune versetzt“ werden Begriffe gesammelt. Natürlich geht es hier nicht um Vollständigkeit, sondern um den spielerischen Umgang mit spontanen Einfällen, sozusagen eine positiv stimmende Lockerungsübung für den Kopf.

A …bendstimmung am Meer
B …randenburgische Konzerte hören
C …appuccino trinken
D …Doppelkopf spielen
E …rdbeertorte mit Sahne
F …luss-Schwimmen
G …edichte lesen
H …immelsblau
u.s.w.

Ich erinnere mich gerne an…
Bei einem anderen Schreibimpuls besteht die Aufgabe darin, fünf Mal untereinander den Satzanfang „ich erinnere mich gerne an…“ zu schreiben und diesen fünf Mal zu vervollständigen. Dabei soll der biografische Gedankenraum möglichst weit offen sein. Es können schöne Kindheitserinnerungen sein, eine eindrucksvolle Reise, eine besondere Begegnung mit einem Menschen, ein Wohlfühlort im Leben, aber auch gegenwärtige kleine Erinnerungen wie ein Spaziergang im Stadtpark ein paar Tage zuvor oder der leckere Spaghettiauflauf vom gestrigen Abend. Danach sollen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen einen dieser Sätze für sich auswählen, in diesen quasi hineinzoomen und die jeweilige Situation mit zwei bis drei Sätzen etwas ausführlicher beschreiben (warum erinnere ich mich gerne an den Sonnenuntergang an der Ostsee im letzten Herbst? Weshalb war das gestrige Abendessen so schön? Etc ).
Wenn anschließend zehn Personen eine Situation aus ihrem Leben vorlesen, an die sie sich gerne erinnern, ist der Raum sofort von einer positiven und oft heiteren Stimmung erfüllt.

Der ungebetene Gast
In einer weiteren, tiefer gehenden Schreibübung − eher geeignet für eine Gruppe, deren Mitglieder sich schon eine Weile kennen und miteinander vertraut sind − geht es um die Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Sorgen. Die Aufgabe besteht darin, sich die Krankheit oder den aktuellen Konflikt, also das belastende Lebensthema, als einen ungebetenen Gast vorzustellen, der plötzlich vor der Tür steht, seinen Koffer in die Wohnung schiebt und sich nicht abweisen lässt. Nun gilt es, sich irgendwie mit diesem Fremdling auseinanderzusetzen und schreibend mit ihm in den Dialog treten.
Bei dieser Schreibübung bin ich immer wieder verblüfft, wie unterschiedlich die Herangehensweise der Teilnehmer und Teilnehmerinnen ist. Manche gehen direkt auf Konfrontationskurs, bringen ihre Wut über sein Erscheinen zum Ausdruck, schreien ihn ordentlich mit deftigen Schimpfwörtern an und versuchen ihn einzuschüchtern. Andere versuchen, sich zu arrangieren, sich einzuschmeicheln, zum Beispiel dem ungebetenen Gast einen Tee zu kochen, in der Hoffnung, er möge dann mit sich reden lassen und wiedergehen. Wieder andere versuchen, ihn sich vom Leibe zu halten, indem sie eine imaginäre Mauer inder Wohnung einziehen und dem Gast einen bestimmten Platz zuweisen etc.
Diese Übung ermöglicht einen Perspektivwechel, der die Phantasie anregt und letztlich eine entlastende Wirkung haben kann. Beim Vorlesen durchläuft die Gruppe oft eine Achterbahnfahrt der Gefühle, aber auch hier wird gelacht über absurde Gedanken und findige Lösungsstrategien.

Elfchen
Als Abschlussintervention eines Gruppentermins verwende ich gerne einen Miniaturtext, ein kleines Gedicht oder einen Vers, der das Hauptthema der jeweiligen Sitzung noch einmal bündelt. Als Beispiel soll hier ein sogenanntes „Elfchen“ zum Thema Freundschaften dienen, ein Gedicht, bei dem in der ersten Zeile ein Wort steht, in der Zeile zweiten zwei Wörter, in der dritten Zeile drei Wörter, in der vierten Zeile vier Wörter stehen, und in der fünften Zeile wieder nur ein Wort steht. Diese formale Strukturvorgabe wird nach meiner Erfahrung nicht als Einengung der kreativen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern im Gegenteil als unterstützende Grundlage für die eigenen Begriffe und Formulierungen empfunden. Im Folgenden ein Beispiel für ein solches Gedicht:

Freundinnen
helfen mir
mit ihrer Nähe
prechen mir Mut zu
einfühlsam

Gezielte Schreibübungen können also helfen, Gedanken zu ordnen, das Chaos im Kopf zu bändigen, wieder in positiv gefärbte Stimmungslagen zu gelangen und sich an der wie von selbst entstehenden Kreativität zu freuen. In den Feedbackrunden am Ende einer Sitzung sind die Teilnehmer und Teilnehmerinnen teilweise richtiggehend erstaunt über die von ihnen verfassten Texte, die sie sich oft nicht zugetraut hätten. Des Weiteren wird die Synergie der Gruppenarbeit immer wieder positiv hervorgehoben. Die geschützte und schreibend konzentrierte Atmosphäre im Raum fördert das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auch die Vorleserunden der oft sehr unterschiedlichen Texte werden von den Gruppenmitgliedern als verbindend und durch ihre Vielseitigkeit als inspirierend erlebt.

Ausblick

Während sich andere kreative Therapiemethoden wie Kunst-, Tanz- und Musiktherapie in den letzten 30 Jahren im Medizinbetrieb zunehmend etablieren konnten, ist die Methode des kreativ-therapeutischen Schreibens in Deutschland trotz guter aktueller Forschungsergebnisse zum Wirksamkeitsnachweis bisher wenig bekannt. Eine Einbindung dieser kreativen Therapieform zum Beispiel in psychosomatische Kliniken, Reha-Einrichtungen sowie onkologische Zentren wäre unbedingt wünschenswert und aus meiner Sicht einfach zu etablieren, zumal für die Durchführung an Material nur Stift und Papier benötigt werden.

Kreatives Schreiben kann aber auch für Menschen, die im beruflichen Kontext viel Emotionsarbeit leisten, (ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, Krankenschwestern und -pfleger, LehrerInnen, BeraterInnen, um nur einige Berufsfelder zu nennen) zur Entwicklung und Bewahrung von Selbstachtsamkeit hilfreich sein und als ergänzende präventive Methode vor Überforderung und chronischer Erschöpfung im Sinne eines Burn-out-Syndroms schützen. Insofern sehe ich für die kreative Schreibtherapie auch im Rahmen von Balintgruppenarbeit oder in der Supervision durchaus Potenzial. Erste eigene vielversprechende Erfahrungen habe ich in ärztlichen Qualitätszirkeln bereits sammeln können.

Zusammenfassung

Stressvolle Lebenssituationen wie schwere Erkrankungen oder andere Konfliktsituationen stürzen Menschen oft in eine Krise, deren körperliche wie auch psychische Verarbeitung eine große persönliche Herausforderung darstellt. Die Methode des kreativen therapeutischen Schreibens bietet zusätzlich zu medizinisch notwendigen Therapien eine gute Möglichkeit, konstruktiv mit den Belastungen umzugehen und die Lebenskrise zu bewältigen. Mit gezielten Schreibimpulsen lassen sich Gedanken und Gefühle wie Ängste, Trauer und Verzweiflung leichter erfassen und so die Resilienz der Betroffenen fördern. Viele Studien aus den letzten 10–15 Jahren belegen die gute Wirksamkeit des therapeutischen Schreibens als einer ressourcenorientierten kreativen Therapiemethode.

Schlüsselwörter: Schreibtherapie – Schreibimpulse – kreative Therapie – Resilienz – ressourcenorientiert – Schreibworkshop

Summary

Creative writing therapy in a medical context
J. Schwerdtfeger

Stressful life situations such as serious diseases or other conflict situations often plunge people into a crisis whose physical as well as psychological processing represents a great personal challenge. In addition to medically necessary therapies, the method of creative therapeutic writing offers a good opportunity to deal constructively with the stresses and strains and to overcome the life crisis. With targeted writing impulses, thoughts and feelings such as anxiety, grief and despair can be grasped more easily and thus the resilience of those affected can be promoted. Many studies from the last 10–15 years prove the goodeffectiveness oftherapeutic writingas a resource-oriented creative therapy method.

Keywords: writing therapy – writing impulses – creative therapy – resi- lience – resource-oriented – writing workshop

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Julia Schwerdtfeger Frauenärztin/Psychotherapie
Hartenbrakenstr. 47
30659 Hannover
Schwerdtfeger-julia@t-online .de
Schreiben-hilft.net

Slide Kreative Schreibtherapie im medizinischen Kontext Gyne 01/2021

Literatur:

  1. Pennebaker JW. Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuchzur Selbsthilfe. Bern: 2010
  2. Unterholzer C. Es lohnt sich einen Stift zuhaben. Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung. Heidelberg: 2017
  3. Haußmann R, Rechenberg-Winter P. Alles, was in mir steckt. Kreatives Schreiben im systemischen Kontext. Göttingen: 2012
  4. Heimes S. Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Göttingen: 2012
  5. Heimes S. Schreib dich gesund. Übungen für verschiedene krankheitsbilder. Göttingen: 2015
  6. Diehm S, Michaud J. Mit Schreiben zur Lebenskraft. Übungsbuch für Frauen mit Krebserkrankungen und ihre Angehörigen. München: 2018
  7. Dörrie D. Leben Schreiben Atmen. Eine Einladung zum Schreiben. Zürich: 2019

Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass bei der Erstellung des Beitrags kein Interessenkonflikt im Sinne der Empfehlung des International Committee of Medical Journal Editors bestand.

Gyne 07/2020 – Lesbische und bisexuelle Patientinnen in der gynäkologischen Praxis

Gyne 07/2020

Lesbische und bisexuelle Patientinnen in der gynäkologischen Praxis

Autorin:

Helga Seyler

Einleitung

Ein nennenswerter Anteil von Frauen lebt nicht ausschließlich heterosexuell. In aktuellen Studien aus Deutschland gaben ca. 2% der Frauen an, lesbisch oder bisexuell zu leben [1, 2], bei 21–25-jährigen Frauen war der Anteilmit 3% lesbisch und 6% bisexuell lebenden Frauen höher [3]. Nicht ausschließlich heterosexuell leben nach einer weiteren Befragung 11–22% der Frauen [4].

Somit sind Frauen, die mit Frauen sexuell aktiv sind oder sich als lesbisch bzw. bisexuell bezeichnen, schon rein zahlenmäßig eine wichtige Gruppe von Patientinnen in der gynäkologischen Versorgung. Als solche wahrgenommen werden sie von viele Ärztinnen und Ärzten trotzdem nicht. Das ist erstaunlich, da doch gerade in der gynäkologischen Versorgung Sexualität, Partnerschaft und Familienplanung zentrale Themen sind.

Erklären lässt sich dieser scheinbare Widerspruch damit, dass – wie Befragungen zeigen – nicht-heterosexuelle Frauen ihre Lebensweise oft nicht von sich aus ansprechen [5, 6]. Außerdem werden sie selten aktiv darauf angesprochen. Die Lebensweise wird so oftmals nicht sichtbar und Ärzte/Ärztinnen gehen weiter davon aus, ausschließlich heterosexuelle Frauen zu behandeln. Das kann die gesundheitliche Versorgung beeinträchtigen und zu Fehlversorgung führen. Und es signalisiert lesbischen und bisexuellen Patientinnen, dass ihre Lebensweise eben nicht selbstverständlich berücksichtigt wird und sie nicht dieselbe Akzeptanz und Anerkennung erfahren wie hetero-sexuelle Frauen.

Es gibt mehrere Gründe für lesbische und bisexuelle Frauen, ihre sexuelle Orientierung zu verschweigen oder nicht aktiv anzusprechen. Oft bekommen sie im Kontakt mit den Behandelnden schlicht keine Gelegenheit. Diese sprechen ihr Gegenüber selbstverständlich als heterosexuell an, die Patientin müsste das Gespräch unterbrechen und dieser Annahme explizit widersprechen. Oft befürchtet sie dabei negative Reaktionen und eine Beeinträchtigung des Kontaktes. Dass diese Sorge nicht unbegründet ist, zeigen zwei Studien aus Deutschland: Ein Fünftel aller befragten lesbischen und bisexuellen Frauen hatte im Kontakt mit Ärzten/Ärztinnen und medizinischem Personal aufgrund der sexuellen Orientierung negative Erfahrungen gemacht. Sie berichteten beispielsweise von ungläubigen Reaktionen, respektloser Behandlung, unangemessenen (voyeuristische) Fragen, distanzierendem Verhalten bis zur Verweigerung medizinischer Hilfe oder gar dem Ratschlag, mit Hilfe einer Psychotherapie heterosexuell zu werden [5, 7].

Zudem gehört es nach wie vor zum Alltag eines Besuchs in einer Praxis, dass Anamnesefragen nur auf eine heterosexuelle Lebensweise ausgerichtet sind oderselbstverständlich davon ausgegangen wird, dass Verhütungsbedarf besteht.

Diese Erfahrungen bzw. Sorgen führen bei einem Teil lesbischer und bisexueller Frauen sogar dazu, im Krankheitsfall den Arztbesuch zu vermeiden. Außerdem nehmen diese Frauen seltener an Früherkennungsuntersuchungen teil [5]. Dieses Phänomen ist als „delay of care“ beschrieben und kann zu schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen führen [8]. Insbesondere lesbische und bisexuelle Frauen, die in einem wenig akzeptierenden Umfeld bzw. sehr versteckt leben, sind davon betroffen.

Die Mehrzahl der Ärzte und Ärztinnen jedoch möchte auch nicht heterosexuell lebende Patientinnen fachkompetent und akzeptierend versorgen. Wenn die akzeptierende Haltung der Praxis bzw. Klinik und der Beschäftigten z. B. auf der Webseite deutlich gemacht wird, kann diesen Frauen der Zugang und das offene Ansprechen der sexuellen Orientierung erleichtert werden. Auch Informationsmaterial im Wartezimmer oder der selbstverständliche Einschluss von nicht-heterosexuellen Lebensweisen in die Anamnesebögen und Fragen sind dazu geeignet (Tab. 1).

Minderheitenstress als Gesundheitsrisiko

Stigmatisierung bzw. die Angst davor werden in der Forschung als Minderheitenstress betrachtet, der die körperliche und psychische Gesundheit beeinträchtigt. Zahlreiche Studien aus dem englischen Sprachraum belegen, dass diese Belastung mit einem höheren Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen,Angststörungen, Depressionen und Suchterkrankungen verbunden ist [8–10]. Lesben rauchen mehr als doppelt so häufig wie heterosexuelle Frauen, wohl ebenfalls infolge von Stress. Allerdings hat auch die Tabakindustrie diese spezifische Zielgruppe erkannt und bewirbt sie geschickt, indem sie weibliche Emanzipation und Unabhängigkeit mit dem Bild der rauchenden Frau verknüpft.

Zwar ist die Akzeptanz nicht heterosexueller Lebensweisen in weiten Teilen der Gesellschaft in den letzten Jahren deutlich gewachsen, trotzdem ist die Gleichstellung in allen gesellschaftlichen Bereichen nicht selbstverständlich. Aktuell nehmen Aktivitäten von rechtspopulistischen und christlich-fundamentalen Strömungen, die offen gegen Akzeptanz und Gleichstellung nicht-heterosexueller Menschen eintreten, sogar wieder zu [11].

Neben direkten, offenen Angriffen wie Beschimpfungen, Beleidigungen und lächerlich machen bis hin zu (sexualisierten) körperlichen Angriffen [7,12],erleben Lesben und bisexuelle Frauen häufig subtile Formen der Abwertung. So wird ihre Lebensweise beispielsweise nicht ernst genommen oder Menschen im Umfeld distanzieren sich von ihnen.

Insbesondere das Coming-Out ist eine krisenhafte und vulnerable Lebensphase. Dies gilt ganz besonders für Jugendliche, die in der Pubertät ohnehin verunsichert sind. Diese Jugendlichen erleben oft gerade im nahen Umfeld von Familie oder Gleichaltrigen massive Ablehnung und Ausgrenzung. Das hat für sie schwerwiegende Folgen und ist zum Beispiel mit vermehrt riskantem Konsum von Alkohol und Drogen verbunden sowie mit einem deutlich höheren Suizidrisiko [8,9]. Gerade in dieser Lebensphase sind verständnisvolle Erwachsene zur Unterstützung wichtig. Diese können sich in Jugendeinrichtungen oder der Schule finden, aber auch Ärzte/Ärztinnen können hier maßgeblich sein.

Gleichzeitig zeigen Studien, dass ein erfolgreich bewältigtes Coming-Out zu einer Stärkung und Stabilisierung der Persönlichkeit und Zunahme der Resilienz führt. Psychische Probleme werden offensichtlich bewältigt und es gibt Hinweise, dass Krisen im späteren Leben (zum Beispiel Wechseljahre, Beeinträchtigungen im Alter) besser bewältigt werden [13, 14].So zeigten einige Studien zwar eine höhere Lebenszeitprävalenz von psychischenErkrankungen,die aktuelle Erkrankungsrate lag jedoch im Durchschnitt [9].

Wichtige Ressourcen fürpsychosoziales Wohlbefinden sind an erster Stelle die Partnerschaft, dann das Netz aus Freunden/Freundinnen, das die Funktion einer Wahlfamilie hat. Darauf folgen soziale Netzwerke, beispielsweise in Form von psychosozialen und kulturellen Treffpunkten.

Gynäkologische Krebserkrankungen

Lebensstilfaktoren sowie die reproduktive Biografie haben Einfluss auf die Häufigkeit von Krebserkrankungen. Daher ist anzunehmen, dass mit der sexuellen Orientierung verbundene Faktoren ebenfalls relevant sind. Es gibt allerding nur wenige Daten dazu, ob die sexuelle Orientierung tatsächlich Einfluss auf die Häufigkeit und den Verlauf von Krebs-erkrankungen hat.

Für das Mammakarzinom belegen einige Studien mehr Risikofaktoren bei lesbisch lebenden im Vergleich zu heterosexuellen Frauen – vorwiegend in der reproduktiven Biografie. Ob sich dies auch in höheren Erkrankungs-zahlenausdrückt, ist unklar. Es gibt allerdings einige Hinweise darauf [15].

In Bezug auf das Zervixkarzinom wurde in der Vergangenheit ein geringeres Risiko bei Lesben angenommen. Inzwischen belegen zahlreiche Daten vergleichbare Prävalenzen von HPV-Infektionen [16]. Daher ist auch ein vergleichbares Risiko der Entwicklung von Zervixkarzinomen anzunehmen.

Für Ovarial-und Endometriumkarzinom gibt es keine Daten zum Einfluss der sexuellen Orientierung. Re-produktive Faktoren, wie die seltenere Anwendung hormonaler Kontrazeptiva, könnten ein höheres Risiko bedeuten.

Nicht-heterosexuell lebenden Frauen sollten Früherkennungsuntersuchungen im gleichen Umfang angeboten werden wie heterosexuellen Frauen. Da eine relevante Gruppe lesbisch und bisexuell lebender Frauen gynäkologische Untersuchungen vermeidet, brauchen sie möglicher-weise spezifische Informationen und Ansprache. Diese sollte Akzeptanz für ihre Lebensweise und Verständnis für mögliche Sorgen und Ängste signalisieren.

Wenn Frauen an Krebs erkrankt sind, hat die Unterstützung durch nahe Bezugspersonen (Partnerin, enge Freundinnen) eine große Bedeutung bei der Betreuung. Es sollte explizit und offen auch nach Partnerinnen gefragt werden, um sie entsprechend dem Wunsch der Patientin in die Betreuung einzubeziehen.

Sexuell übertragbare Krankheiten

Zur Häufigkeit von sexuell übertrag-baren Krankheiten (STD) sowie zu Übertragungsrisiken und Schutzmöglichkeiten bei lesbischen und bisexuellen Frauen gibt es deutlich weniger gesichertes Wissen, als für heterosexuell lebende Menschen und schwule Männer. Meist wird zumindest für lesbisch lebende Frauen von einem sehr geringen Risiko ausgegangen. Aktuelle Studien stellen das jedoch zumindest teilweise in Frage – auch wenn sie meist kein repräsentatives Kollektiv untersuchten und/oder kleine Fallzahlen hatten.

Dass eine Übertragung beim Sex zwischen Frauen möglich ist, gilt für alle klassischen STD einschließlich HIV auf der Basis von überprüften und gut dokumentierten Fallberichten als gesichert [17–19]. Die Prävalenz der meisten STD scheint jedoch – zumindest bei Frauen, die ausschließlich mit Frauen sexuell aktiv sind – deutlich geringer zu sein als bei heterosexuell aktiven Frauen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die sexuelle Identität nicht deckungsgleich mit dem sexuellen Verhalten ist.

Dimensionen der sexuellen Orientierung:

  • Sexuelle Attraktion (sexuelles Begehren gerichtet auf das gleiche und/oder das Gegen-geschlecht)
  • Sexuelle Identität (Selbstbezeichnung als lesbisch, bisexuell, queer, etc.)
  • Sexuelles Verhalten (sexuelle Aktivität mit Frauen, Männern oder beiden)

 

Die Mehrzahl der Frauen mit lesbischer Identität hatte zumindest in der Vergangenheit männliche Sexualpartner. Eine signifikante Minderheit (in verschiedenen Studien zwischen6% und20%) hat auch aktuell Sex mit Männern [18]. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Frauen ein höheres Infektionsrisiken eingehen und sich weniger schützen als heterosexuelle Frauen. Demzufolge haben sie auch ein höheres Risiko für die Ansteckung mit einer STD. Für bisexuelle Frauen sind die Daten heterogen. In der Praxis ist es also wichtig, genauer nach Sexualpartnern oder partnerinnen und Infektionsrisiken zu fragen.

Zur Häufigkeit von Chlamydieninfektionen gibt es widersprüchliche Daten. In älteren Studien war die Häufigkeit zumindest bei Frauen, die in den letzten zwölf Monaten nur Sex mit Frauen hatten, mit etwa1% gering. Eine aktuelle Studie fand jedoch auch in dieser Gruppe höhere Prävalenzen von 5–7 %, zumindest für Frauen im Alter von 15–24 Jahren [18, 20].

HIV, Gonorrhoe und Lues scheinen bei Frauen, die im vorangegangenen Jahr nur Sex mit Frauen hatten, selten diagnostiziert zu werden [18]. In Bezug auf HIV-Infektionen spielen für lesbisch lebende Frauen Übertragungswege wie Needle-sharing bei intravenösem Drogengebrauch sowie Sex mit Männern eine deutlich größere Rolle als die Übertragung beim Sex zwischen Frauen.

Bakterielle Vaginosen wurde in einigen Studien bei Frauen mit einer gleichgeschlechtlichen Partnerin häufiger diagnostiziert als bei Frauen mit gegengeschlechtlichen Partnern. Außerdem bestand häufig eine gleichzeitige Infektion bei beiden Partnerinnen. Auch longitudinale Beobachtungen legen eine Übertragung beim Sex zwischen Frauen nahe [18, 21].

Ein großes Problem für die Beratung und Betreuung lesbischer Patientinnen hinsichtlich sexuell übertragbarer Infektionen, ist das mangelnde Wissen zu den Übertragungsrisiken bei einzelnen Sexpraktiken(z.B. bei Oralsex, manueller vaginaler Stimulation oder der gemeinsamen Verwendung von Sexspielzeug) und zum Nutzen von Schutzmöglichkeiten [22]. Das erschwert die Beratung, bei welchen Sexpraktiken und in welchen Situationen die Benutzung von Handschuhen oder Latex-Tüchern sinnvoll erscheint. Und es erschwert Lesben einen angemessenen Umgang mit Infektionsrisiken.

Kinderwunsch

Das häufigste Anliegen, das lesbisch lebende Frauen in eine gynäkologische Praxis führt, ist der Wunsch nach einer Schwangerschaft. Für die Erfüllung ihres Kinderwunsches müssen Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften hohe rechtliche und praktische Hürden überwinden. Sie sind mit vielen Fragen und Entscheidungen konfrontiert, der Weg zu einer Schwangerschaft ist für sie oft kompliziert und vor allem teuer. Daher können viele dieser Frauen ihren Wunsch nicht realisieren. Für die Unterstützung und Betreuung sind psychologische, rechtliche und praktische Informationen hilfreich [23].

Rechtliche Fragestellungen der donogenen Insemination

Die Muster-Richtlinie der Bundesärztekammer zur assistierten Reproduktion enthält seit 2018 keine Beschränkungen mehr in Bezug auf Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Rechtlich bindend sind die Richtlinien der Landesärzte-kammern, die in diesem Punkt un-einheitlich sind. Ohnehin beurteilen jedoch viele Juristen solche Einschränkungen als gesetzeswidrige Benachteiligung aufgrund der sexuellen Orientierung, die dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz widerspricht und damit als rechtlich nicht bindend angesehen werden kann [24, 25].

Eingeschränkt wird die Bereitschaft, Leistungen der assistierten Reproduktion auch Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anzubieten, durch die Sorge von Samenbanken oder inseminierenden Ärzten/Ärztinnen vor einer Klage auf Unterhaltszahlungen durch Jugend-ämter. Für die donogene Insemination in heterosexuellen Beziehungen ist dies ausgeschlossen, da die An-erkennung der Vaterschaft bereits vor der Geburt möglich ist, so dass das Kind dann zwei unterhaltspflichtige Eltern hat.

Die Möglichkeit solcher Unterhalts-klagen von vielen Juristen als nicht real angesehen!

Stiefkind-Adoption

Die seit 2005 für Frauen in einer eingetragenen Partnerschaft mögliche Stiefkind-Adoption hat zu einer deutlich besseren rechtlichen Absicherung dieser Familien geführt, in-dem nun beide Mütter rechtlich Eltern des Kindes werden können. Dennoch ist das Verfahren für lesbische Mütter unangemessen bürokratisch und langwierig. Konzipiert für Kinder aus einer früheren (heterosexuellen) Beziehung, die in eine neue Partnerschaft eingegliedert werden sollen, berücksichtigt es nicht, dass das Kind in eine bestehende Beziehung der beiden Elternteile hineingeboren wird.

Die Stiefkind-Adoption kann erst nach der Geburt des Kindes beim Vormundschaftsgericht beantragt werden. Die Einwilligung der Mutter kann frühestens acht Wochen nach der Geburt erfolgen. Das Jugendamt prüft dann die Eignung des zukünftigen Stiefelternteils, unter anderem die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Verhältnisse. Oft wird eine unterschiedlich bemessene „Adoptionspflegzeit“ festgelegt, um zu prüfen, ob sich zwischen dem Kind und dem Stiefelternteil eine stabile, für das Kind förderliche Beziehung entwickelt. Schließlich wird in einer gerichtlichen Anhörung über den Antrag entschieden. Das Verfahren ist belastend, da mehrfache Behördentermine wahrgenommen und zahlreiche Unterlagen und notariell beglaubigte Erklärungen beschafft werden müssen.

Auch die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare hat an dieser Situation nichts geändert. Eine rechtliche Gleichstellung soll ein neues Abstammungsgesetz bringen, in dem auch Partnerinnen von schwangeren Frauen bereits während der Schwangerschaft die Elternschaft anerkennen können. Dieses Gesetz wurde jedoch bisher nicht verabschiedet. Stattdessen ist zu befürchten, dass eine Neuregelung die Stiefkind-Adoption weiter erschwert, indem eine Pflichtberatung eingeführt werden soll, die auch den Samenspender einschließt.

Fragen und Entscheidungsprozesse

Eine zentrale Überlegung bei der Entscheidung für einen privaten Samenspender oder Samen von einer Samenbank ist, welche Rolle der Samenspender für die Familie und das Kind spielen soll. Soll das Kind die Möglichkeit haben, ihn irgendwann kennen zu lernen? Soll es unregelmäßigen oder regelmäßigen Kontakt mit ihm haben und ihn als Vater kennen? Oder soll der Samenspender als Vaterfigur in der Familie leben? Die Paare müssen bedenken, dass die Bindung zum Kind für die biologische Mutter möglicherweise enger ist als für die soziale Mutter. Die soziale Mutter kann sich in Konkurrenz zum biologischen Vater sehen. Die Rolle des Samenspenders in der zukünftigen Familie spielt daher nicht nur für das Kind, sondern auch für die Familienkonstellation eine große Rolle.

Neben persönlichen Wünschen spielt bei dieser Entscheidung allerdings eine wesentliche Rolle, welche Möglichkeiten überhaupt verfügbar und zugänglich sind.

Außerdem setzen sich zukünftige lesbische Mütter damit auseinander, wie sich das Aufwachsen mit zwei Müttern auf die Entwicklung der Kinder auswirkt und wie die Kinder mit möglichen Diskriminierungserfahrungen in ihrem sozialen Umfeld umgehen werden. Die Sorge um die psychische Entwicklung von Kindern, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen, wurde durch zahlreiche Studien aus den letzten zwanzig Jahren ausgeräumt. Diese belegen, dass es im Vergleich zu heterosexuellen Paaren keine Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung der Kinder gibt [25]. Auch zur Situation in Deutschland wurde eine Studie veröffentlicht, die eine unauffällige Entwicklung der Kinder belegt [26].

Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen und die Suche nach einem passenden Samenspender dauern meist viele Monate bis Jahre.

Suche nach einem privaten Samenspender

Die meisten Frauen wünschen sich für ihr Kind die Möglichkeit, den biologischen Vater kennenzulernen oder zumindest gelegentlichen Kontakt zu ihm zu haben und würden daher einen privaten Samenspender bevorzugen. Die Suche danach gestaltet sich aber oft schwierig. Es ist nicht leicht, sich mit einer so persönlichen Anfrage an Männer im eigenen Umfeld zu wenden. Dabei ist mit emotionalen und möglicherweise ablehnenden Reaktionen zu rechnen, die ausgehalten und verarbeitet werden müssen, um trotz solcher Fehlschläge neue Anläufe starten zu können.

Wenn die Anfrage auf grundsätzliche Bereitschaft beim potenziellen Samenspender stößt, müssen Wünsche und Vorstellungen in Bezug auf die Elternrolle aller Beteiligten möglichst konkret besprochen und in Einklang gebracht werden. Sichere rechtliche Regelungen sind für keine der Seiten möglich. Die lesbischen Mütter können beispielsweise nicht ausschließen, dass der Vater den Umgang mit dem Kind einklagt. Um-gekehrt kann sich der Samenspender nicht vollständig gegen Unterhaltsansprüche absichern. Rechtliche Beratung, auch über Möglichkeiten und Wirkung von Verträgen, ist dennoch empfehlenswert. Auch in dieser Phase der Gespräche kommt es oft zu Rückzügen auf der einen oder anderen Seite.

Inzwischen gibt es spezifische Medien, um Samenspender zu finden. Dieser Weg birgt andere Schwierigkeiten als die Suche im privaten Umfeld. Zwar ist die Bereitschaft zur Samenspende geklärt, aber es müssen mit völlig fremden Männern sehr persönliche Fragen zu Vaterschaft und Mutterschaft diskutiert und in Bezug auf die Infektionsrisiken auch die sexuellen Gewohnheiten des potenziellen Samenspenders angesprochen werden. Auch mit diesem Weg machen einige Lesben positive Erfahrungen, andere haben unangenehme Begegnungen.

Die Bereitschaft zur Samenspende erfordert praktisches Engagement des Spenders. Er sollte sich auf durch die Samenspende übertragbare Infektionen untersuchen lassen und am besten auch die Samenqualität testen lassen. Er muss, möglicherweise über Monate, kurzfristig zum richtigen Zeitpunkt für die Samenspende verfügbar sein, was entsprechende Flexibilität und räumliche Nähe voraussetzt. Außerdem muss er in dieser Zeit das Risiko sexuell übertragbarer Infektionen nicht nur für sich und seine Sexualpartner und –partnerinnen, sondern auch für die Empfängerin der Samenspende bedenken.

Nutzung von Samenbanken

Viele Lesben brechen die Suche nach einem privaten Samenspender nach einigen Monaten bis Jahren erfolglos ab und wenden sich den Angeboten von Samenbanken zu. Andere scheuen den privaten Weg gänzlich und bevorzugen von Anfang an professionelle Angebote. Diese bieten Sicherheit in Bezug auf Infektionsrisiken und die Qualität des Spermas sowie klare Regelungen zum Kontakt zwischen Kind und Samenspender. Die Spenderdaten werden in einem zentralen Spendersamenregister dokumentiert und 30 Jahre lang aufbewahrt. Ab dem 16. Lebensjahr kann das Kind Informationen zur Identität des Spenders bekommen.

Inzwischen bietet die Mehrzahl der deutschen Samenbanken ihre Leistungen auch Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften an. Die Kosten sind sehr unterschiedlich und schwer kalkulierbar, da sie sich aus verschiedenen Posten zusammensetzen (Grundgebühr für Beratung, Auswahl des Spenders und Reservierung von Proben, Gebühren für die Samenproben, Versandkosten).

Die meisten geben den Samen nur an Kinderwunschpraxen ab. Zwar nimmt die Zahl von Zentren zu, die Inseminationen und auch weitergehende Behandlungen bei Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anbieten, die Leistungen müssen jedoch komplett privat bezahlt werden. In grenznahen Regionen bietet sich auch der Weg ins Ausland, vor-wiegend nach Dänemark oder in die Niederlande, wo schon seit vielen Jahren offene Angebote bestehen. In der Regel müssen die Frauen für die Inseminationen sowohl in deutschen Kinderwunschzentren als auch im Ausland lange Anreisen auf sich nehmen, die zusätzliche Kosten und erheblichen zeitlichen Aufwand bedeuten. Eine viel genutzte dänische Samenbank verschickt auch Samen nach Deutschland, üblicherweise an Arztpraxen, aber auch direkt an Privatpersonen.

Insemination zu Hause oder in der Praxis

Den optimalen Zeitpunkt für die Insemination können die Frauen mit Hilfe von LH-Teststreifen selbst bestimmen. Am Tag der maximalen LH-Anzeige und dem folgenden Tag kann inseminiert werden, da der Eisprung meist 24–36 Stunden nach dem LH-Anstieg stattfindet. Auch die Schleimbeobachtung ist zur Bestimmung der fruchtbaren Tage geeignet und kann zusammen mit den LH-Tests durchgeführt werden. Die Basaltemperaturmessung ist nicht hilfreich, da sie lediglich rückblickend den Eisprung bestätigt.

Ob darüber hinaus ein Zyklusmonitoring per Ultraschall und Hormonbestimmungen sinnvoll ist, wird unterschiedlich beurteilt. Der finanzielle und organisatorische Aufwand im Zusammenhang mit den Inseminationen kann diese Untersuchungen auch schon bei der ersten Insemination rechtfertigen. Spätestens nach einigen erfolglosen Versuchen sind weitergehende Untersuchungen in jedem Fall hilfreich.

Mit frischem Samen ist das Zeitfenster für die Insemination größer, da die Spermien länger befruchtungs- fähig sind als bei kryokonserviertem Sperma. Daher kann auch schondrei Tage vor dem erwarteten Eisprung inseminiert werden und eventuell zweimal im Abstand von ein bis zwei Tagen. Mit einem privaten Samenspender inseminieren die meisten Frauen zu Hause. Das Sperma kann -in einem Urinbecher mit Deckel transportiert werden. Es muss möglichst körperwarm gehalten werden und ist so einige Stunden beruchtungsfähig. Zur Insemination wird der Samen mit einer normalen Spritze möglichst tief in die Vagina in die Nähe des Muttermunds gespritzt.

Kryokonserviertes Sperma ist maximal 24 Stunden befruchtungsfähig, es muss also möglichst nah am Zeitpunkt des Eisprungs inseminiert werden. Die Schwangerschaftsrate mit kryokonserviertem Samen ist bei einer intrauterinen Insemination (IUI) höher als bei der Insemination vor den Muttermund. Grundsätzlich kann aber auch mit kryokonserviertem Sperma zu Hause intravaginal inseminiert werden, wenn es direkt nach Hause geschickt oder aus einer Arztpraxis mitgenommen wird. Es hat nur ein Volumen von 0,5–1ml, daher ist eine entsprechend englumige Spritze hilfreich. Um das Sperma vollständig aus der Spritze in die Vagina zu befördern, sollte nach der Insemination mit Luft nachgespült werden.

Schwangerschaftsraten

Angaben zur Schwangerschaftsrate sind schwierig, da die vorhandenen Daten sich auf die IUI mit Kryosperma bei heterosexuellen Paaren mit männlicher Infertilität und möglicher Subfertilität der Frau beziehen. Für lesbische Frauen existieren Daten nur in geringen Fallzahlen. Mit frischem Sperma ist die Chance auf eine Schwangerschaft auch bei Insemination in die Vagina größer. Eine Auswertung von 4.415 IUI-Zyklen mit Kryosperma in unstimulierten Zyklen bei heterosexuellen Paaren mit männlicher Infertilität sowie lesbischen Frauen erbrachte die in Tabelle 2 genannten Schwanger-schaftsraten [27].

Ausbleibende Schwangerschaft

Der Weg zu einer Schwangerschaft ist für lesbische Paare in der Regel aufwändiger als für heterosexuelle Paare. Wie körperlich und psychisch belastend eine Kinderwunschbehandlung ist, ist von heterosexuellen Paaren bekannt. Dies sollte bei der Betreuung der Paare bedacht wer-den. Zwischen den Inseminations-zyklen sollte zu Pausen geraten werden, um Gefühle von Enttäuschung und Trauer verarbeiten zu können.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich frühzeitig damit auseinanderzusetzen, dass sich der Kinderwunsch möglicherweise nicht verwirklichen lässt. Ohne diese Reflexion besteht die Gefahr, nach jedem misslungenen Versuch möglichst rasch den nächsten Anlauf zu starten, um der Enttäuschung mit neuer Hoffnung zu begegnen.

Zusammenfassung

Mit 10–20 % stellen nicht heterosexuell lebende Frauen in der gynäkologischen Praxis eine relevante, aber bisher wenig wahrgenommene Gruppe dar. Oft wird die sexuelle Orientierung in der Praxis nicht thematisiert. Diskriminierungserfahrungen in Praxen und Kliniken führen zu einer verminderten Inanspruchnahme auch im Krankheitsfall. Das kann durch akzeptierende Versorgungsstrukturen vermieden werden. Spezifische Fragen bestehen in Bezug auf sexuell übertragbare Infektionen, von denen zumindest einige Gruppen lesbisch oder bisexuell lebender Frauen nicht selten betroffen sind. Da sexuelle Identität und Verhalten nicht immer deckungsgleich sind, erleichtert eine sensible Anamneseerhebung zum aktuellen sexuellen Verhalten die Einschätzung des aktuellen Infektionsrisikos.

Ein häufiges Anliegen von Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ist die Verwirklichung ihres Kinderwunsches – sei es mit Hilfe eines Samenspenders aus dem privaten Umfeld oder durch Kryosperma von einer Samenbank. Bei beiden Wegen bestehen spezifische rechtliche, psychosoziale und medizinische Fragen, für die Beratung und medizinische Unterstützung hilfreich sind. Auch im Zusammenhang mit Krebserkrankungen spielt die sexuelle Orientierung eine Rolle. Nicht heterosexuell lebende Frauen können durchspezifische Ansprache zur Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen ermutigt werden. Im Falle einer Krebserkrankung ist die Partnerin oft die wichtigste Unterstützungsperson, die in die Betreuung einbezogen werden sollte.

Schlüsselwörter: Lesbische Frau, Bisexuelle Frau, Kinderwunsch, sexuell übertragbare Infektionen

Korrespondenzadresse:
Helga Seyler
Familienplanungszentrum HH e.V. (FPZ)
Bei der Johanneskirche 20
22767 Hamburg

Slide Lesbische und bisexuelle Patientinnen in der gynäkologischen Praxis Gyne 07/2020

Literatur:

  1. Pöge Ketal. Die gesundheitliche Lage von lesbischen, schwulen, bisexuellen sowie trans-und intergeschlechtlichen Men-schen.JHealthMonitor2020;5:1–30
  2. Matthiesen S et al. Sexuelles Verhalten, Einstellungen und sexuelle Gesundheit in Deutschland. Erste Ergebnisse einer Pilotstudie zur Erwachsenensexualität. UKE Hamburg; BZgA, Köln; Kantar Emnid, Bielefeld 2017
  3. Bode H & Heßling A. Jugendsexualität 2015. Die Perspektive der 14-bis 25-Jähri¬gen. Ergebnisse einer aktuellen Repräsentativen Wiederholungsbefragung. BZgA 2015
  4. Haversath J et al. Sexualverhalten in Deutschland. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 545–550
  5. Dennert G. Die gesundheitliche Situation lesbischer Frauen in Deutschland – Ergebnisse einer Befragung. 2005; Herbolz-heim: Centaurus
  6. HuntR& Fish J. Prescription for change. Lesbian and bisexual women“s health check. 2008. Stonewall De Montfort University. http://www.stonewall.org.uk/ sites/default/files/Prescrip
  7. LesMigraS, Antigewalt-und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin e.V. „Nicht so greifbar und doch so real“. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt-und (Mehrfach-) Diskriminierungserfahrung von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. 2012. http://www.lesmigras.de/ tl_files/lesbenberatung-berlin/Gewalt% 20(Dokus, Aufsaetze …)/Dokumentation %20Studie%20web_sicher.pdf
  8. Dennert G. Gesundheit lesbischer und bisexueller Frauen. in: Kolip, P & Hurrel¬mann, K (Hrsg). Handbuch Geschlecht und Gesundheit Männer und Frauen im Vergleich 2016; Bern: Hogrefe
  9. Dennert G. Die psychische Gesundheit von Lesben und Schwulen – eine Über¬sicht europäischer Studien. Verhaltenstherapie und Psychosoziale Praxis 2006; 38: 559–576
  10. IOM Institute of Medicine. The health of lesbian, gay, bisexual, and transgender people. Building a foundation for better understanding. The National Academies Press Washington DC 2011
  11. Küpper B et al. Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen und bisexuellen Menschen in Deutschland. Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Um- frage. Antidiskriminierungsstelle des Bun- des 2017
  12. Hanafi El Siofi M & Wolf G. Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen von lesbi- schen/bisexuellen Frauen und Trans*Men- schen in der BRD und Europa — eine Stu- dienübersicht. 2012. http://www.vIsp.de/ files/pdf/gewaltdiskriminierung_von_ Isb_ft.pdf (zugegriffen am 26.7.2020)
  13. Howell LC & Beth A. Pioneers in our own lives: grounded theory of lesbians midlife developement. !Women Aging 2004; 16: 133-147
  14. Winterich J. Sex, menopause, and culture. Sexual orientation and the meaning of menopause for women’s sex lives. Gender & Society 2003; 17: 627-642
  15. Cochran SD & Mays VM. Risk of breast cancer mortality among women cohabiting with sa- me sex partners: findings from the National Health Interview Survey, 1997-2003. J Wo- mens Health 2012; 21: 528-533
  16. Marraizo JM et al. Papanicolaou test screening and prevalence of genital hu- man papillomavirus among women who have sex with women. Am J Public Health 2001; 91: 947-952

Vollständige Literaturliste unter: https://medizin.mgo-fachverlage.de/gyne/literatur-gyne/

Gyne 05/2020 – Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“: Eine Sensation in vielerlei Hinsicht

Gyne 05/2020

Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“: Eine Sensation in vielerlei Hinsicht

Autorin:

Ulrike Hauffe

Das nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ ist für uns alle eine großartige und spannende Herausforderung. Es stellt an alle, die fachlich in die Lebensphasen Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und erstes Lebensjahr des Kindes eingebunden sind die Frage, welche Rolle sie mit ihrer Profession, mit ihrem Arbeitsansatz, mit ihrer Haltung zu diesem wichtigen Lebensabschnitt von Frauen und Eltern haben und haben wollen. Anforderungen und Vorschläge zu interdisziplinärer Zusammenarbeit können eine Bereicherung der frauenärztlichen Praxis sein. Denn gerade die Frauenheilkunde hat im Versorgungssystem eine zentrale Bedeutung.

Leicht wird missachtet, welche grundlegenden Weichen bei Frauen und Paaren für das Erleben und Erfahren  von  Schwangerschaft,  Geburt und dem Wochenbett gestellt werden. Das gilt z. B. für die innerfamiliale Haltung und Gestaltung gesundheitlichen und gesundheitsfördernden Verhaltens: Gerade in dieser Lebensphase werden tiefenwirksame Grundlagen für  Verantwortungsübernahme geschaffen, für individuelle, familiale und gesellschaftliche Lebensgestaltung. Jedoch: Gerne wird erst mit der Geburt der Kinder die Zeitrechnung „Familie“ begonnen. Viele Publikationen zeugen von dieser Vorgehensweise. Und es wird  unterschätzt, welche Rolle Hebammen und FrauenärztInnen für genau jene familiale Haltungsbildung spielen, wenn ihnen als  Berufsgruppen offensichtlich in Fragen familialer sozialer Entwicklung eher eine geringe Rolle zugeschrieben wird.

Warum ist es wichtig, sich Schwangerschaft und Geburt besonders anzuschauen? Wie stark bahnen Erfahrungen in der Schwangerschaft und bei der Geburt die Befähigungen von Eltern, die (neue) Familiensituation zu meistern?

Wir beobachten über viele Jahre bis Jahrzehnte eine sich ständig steigernde Risikozuschreibung bei Schwangerschaft und Geburt. Ich will an dieser Stelle nicht im Detail erläutern, was an dieser Entwicklung sinnvoll oder unsinnig war. Auf jeden Fall können wir aber konstatieren, dass es auch ein sehr deutscher Weg war und ist – der „unterwegs“ auch immer mal geändert  wurde. Wenig wurde darüber nachgedacht, ob und wie eine derartige Risikozuschreibung die Haltung von Frauen zum Leben, zu ihrer Verantwortung, zum „geschehen lassen“ beeinflusst. Kontrolle war und ist das Diktat. Kontrolle von vermeintlichen Risiken kann jedoch iatrogene Folgen haben, die langfristig und nachhaltig wirken. Nicht mehr: „Ich kann!“, sondern  eher: „Ich lass machen!“ griff und greift um sich. Auch die individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) bahnen, indem medizinische – hier diagnostische – Leistungen wie z. B. häufiger als vorgegebene Ultraschalluntersuchungen zu Dienstleistungen werden, die kaufbar sind, wie in einem Warenhaus.

Aus all diesen Überlegungen entwickelte sich die Perspektive, ein nächstes nationales Gesundheitsziel zu entwickeln, das Schwangerschaft, Geburt und das erste Lebensjahr der Familie und des Kindes umfasst. Nationale Gesundheitsziele werden in einem Verbund erarbeitet, der ein breiter Zusammenschluss von Entscheidungsträgern der Spitzenverbände im Gesundheitswesen ist [1]. Die Arbeitsgruppen der jeweiligen Gesundheitsziele werden dann selbstverständlich fachlich zusammengesetzt. Aufgrund ihrer gesundheitspolitischen Bedeutung wurden die Gesundheitsziele auch in das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz) aufgenommen.

Anfang   2017   präsentierte   das Bundesministerium   für   Gesundheit (BMG) das nunmehr neunte Gesundheitsziel: „Gesundheit rund um die Geburt“.  Es nimmt eine „an Wohlbefinden und Gesundheit ausgerichtete Perspektive ein“, heißt es und dass „vorhandene  Ressourcen und Potenziale (von Frauen) umfassend gefördert und eine Pathologisierung vermieden“ werden soll [2]. Leitgedanke ist also ein positives Verständnis von Potenzial und Ermächtigung, die sog. Salutogenese. Und nicht wie es sonst im Alltag des Gesundheitssystems üblich ist, Schwangerschaft potenziell als Risiko und allzu oft als krankheitsähnlichen Zustand zu betrachten. Das ist nichts weniger als eine – öffentlich weitgehend unbeachtet gebliebene – Sensation.

Das neue nationale Gesundheitsziel „Rund um die Geburt“

Das neue Gesundheitsziel ist ein Durchbruch. Denn hier haben sich wichtige AkteurInnen im Gesundheitswesen interdisziplinär auf nationaler Ebene in einem Klärungsprozess innerhalb des Gesundheitsziele-Dialogs für ein Thema entschieden und sich in einem angeleiteten Prozess zu einer gemeinsamen Position durchgerungen. Ihre Feststellung: In den Bereichen Schwangerschaftsbetreuung, Geburtshilfe und Wochenbett besteht deutlicher Handlungsbedarf.

Und nachdem zunächst das Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ Teil des Gesundheitsziels „Gesund aufwachsen“ sein sollte, wurde während der Erarbeitung allen Beteiligten und den übergeordneten Entscheidungsgremien deutlich, dass dieses Gesundheitsziel so bedeutend ist, dass es einen eigenen Stellenwert bekommen sollte.

Vorweg: Die Inhalte sind allesamt nicht wirklich neu für diejenigen, die in diesen Feldern arbeiten und schon lange die Pathologisierung von Schwangerschaft und Geburt kritisieren sowie diejenige, die eher einen psychosomatischen Zugang suchen und sich für eine Stärkung der natürlichen Prozesse entlang der gegebenen Potenziale von Frauen und ihren Familien einsetzen. Dass dies nun aber nicht nur aus der „Frauenecke“ kommt, sondern von Krankenkassen bis hin zu Ärzteverbänden, Ministerien und weiteren Akteuren allgemein anerkannt und nach Veränderung gesucht wird, ist mehr als bedeutsam.

Ermächtigung statt Entmachtung

Der Leitgedanke des Gesundheitsziels ist ein positives Verständnis von Potenzial und Ermächtigung, die so genannte Salutogenese. Dafür haben Frauenverbände lange gekämpft – seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damalige Themen waren u. a. keine programmierte Geburt, Begleitung durch den werdenden Vater, Stillen unmittelbar nach der Geburt und Rooming-In.

Macht und Ohnmacht ist ein wesentliches Thema von Frauenpolitik. Dieses Spannungsfeld findet sich auch in einem patriarchal und machtdominant erscheinenden Medizinbetrieb wieder. Warum „patriarchal“ und „machtdominant“? Gemeint sind hier nicht prioritär die Fachpersonen, sondern die gesellschaftliche Rolle, die der Medizinbetrieb (bekommen) hat: Überwachung,  Steuerung,  Heilsversprechung. Schwangerschaft und Geburt sind jedoch nur begrenzt kontrollierbare Geschehnisse, nicht wie eine Operation nach einer Diagnose und einem Therapieplan. Und es kann nicht Sinn sein, dass Frauen die Verantwortung für das Geschehen an das gerne übernehmende Medizin“system“ abgeben. Das alles hätte Konsequenzen, die wir nicht wollen können. Es bedarf also der Wiederaneignung weiblichen Ur-Könnens – schwanger sein und gebären. Übrigens: Gebären, nicht entbinden.  Gebären machen Frauen selbst, die Entbindung machen andere. Uns droht, das Wort „gebären“ abhanden zu kommen. Ich plädiere sehr dafür, dieses Wort wieder mehr zu benutzen, sprachlich im Sinne von Ermächtigung statt Entmachtung.

Was genau steht im neuen Gesundheitsziel?

Das große Ziel „Gesundheit rund um die Geburt“ hat 5 Abschnitte: die Ziele 1–5, entsprechend der Phasen im Verlauf. Jedes der 5 Ziele ist in mehreren Teilzielen ausformuliert, für deren Umsetzung wir Empfehlungen aufgestellt haben. Das allein würde aber nicht ausreichen. Entscheidend ist, dass den Zielen und Teilzielen jeweils Maßnahmen und institutionelle AkteurInnen sowie relevante Berufsgruppen und MultiplikatorInnen zugeordnet sind. Damit sind ihnen quasi Handlungsaufträge erteilt: Sie sind zuständig, dass sich hier etwas bewegt!

Nachfolgend die ersten drei Ziele exemplarisch ausführlicher; das vierte und fünfte als Überschrift:

1. Eine gesunde Schwangerschaft wird ermöglicht und gefördert.
a. Gesundheitliche Ressourcen und Kompetenzen sowie das Wohlbefinden sind gestärkt.
b. Evidenzbasierte Grundlagen zu Information, Beratung und Versorgung sind entwickelt und werden einheitlich in der Praxis eingesetzt.
c. Belastungen und Risiken sind identifiziert und verringert.
d. Der Anteil der Frauen, die während der Schwangerschaft und Stillzeit auf schädliche Substanzen wie Alkohol und Tabak verzichten, ist erhöht. Folgeschäden sind reduziert.
e. Die Frühgeburtsrate ist gesenkt.
f. Besondere Unterstützungsbedarfe sind identifiziert und spezifische Angebote sind entwickelt und vermittelt.
g. Die an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen arbeiten konstruktiv und partnerschaftlich zusammen und gewährleisten eine kontinuierliche Betreuung.

2. Eine physiologische Geburt wird ermöglicht und gefördert.
a. Eine interventionsarme Geburt wird gefördert. Gesundheitliche Ressourcen sind gestärkt.
b. Belastungen, Risiken und besondere Unterstützungsbedarfe sind identifiziert und spezifische Angebote sind entwickelt und vermittelt.
c. Die an der Geburt beteiligten Berufsgruppen arbeiten konstruktiv und partnerschaftlich zusammen und gewährleisten eine kontinuierliche Betreuung.

3. Die Bedeutung des Wochenbetts und die frühe Phase der Elternschaft sind anerkannt und gestärkt.
a. Die Bedeutung des Wochenbetts ist anerkannt. Vorhandene Ressourcen und Kompetenzen sowie das Wohlbefinden der Eltern zur Bildung einer Familie werden gestärkt.
b. Der Anteil der stillenden Mütter sowie die Stilldauer sind erhöht.
c. Komplikationen und Belastungen im Wochenbett werden frühzeitig erkannt und/oder vermieden.
d. Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung werden frühzeitig erkannt und mithilfe spezifischer Maßnahmen aufgefangen.
e. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit in den Bereichen Kinderschutz und Frühe Hilfen ist gewährleistet.

4. Das erste Jahr nach der Geburt wird als Phase der Familienentwicklung unterstützt.

5. Lebenswelten und Rahmenbedingungen rund um die Geburt sind gesundheitsförderlich gestaltet.

So ist das Konzept der frau-, kind- und elternzentrierten Betreuung aus der Perspektive der Betroffenen weiter zu entwickeln und bei allen Berufsgruppen zu verankern. Evidenzbasierte und leicht verständliche Informationen sollen entstehen, die verschiedenen Berufsgruppen sind gehalten, gemeinsam (!) Leitlinien zu erarbeiten.

Der Prozess der Entstehung: die Rolle der Frauengesundheitsbewegung

Die Entscheidung, ein nationales Gesundheitsziel  zum  Thema  Schwangerschaft und Geburt zu erarbeiten, war kein Selbstläufer. Dem Prozess – und es war ein langer, konflikt- und diskussionsreicher Prozess – sind viele Kampagnen vorausgegangen. Wesentlich war hier das Positionspapier des AKF e.V., in dem es heißt, dass es höchste Zeit sei, „den Umgang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu überdenken“, und die AKF-Kaiserschnitt-Kampagne [3, 4]. Auch die AKF-Fachtagung 2014 zur Kaiserschnittrate und deren Senkung hat hier gewirkt. (Zum Verständnis: Der AKF ist der einzige interdisziplinäre  Zusammenschluss von Fachfrauen zu Themen der Frauengesundheit in Deutschland. Neben den fast 500 Mitgliedern sind über 60 Verbände als juristische Personen Mitglied. Er wird regelmäßig sachverständig auf Bundesebene angehört. Die Jahrestagungen sind immer wertvolle Quellen für zukunftsgerichtete Frauengesundheitspolitik.)

Schon 2014 hat die Konferenz der Gleichstellungs- und Frauenministe- rinnen und -minister (GFMK) ein- stimmig beschlossen, dass die Zu-stände in der Geburtshilfe und die hohen Schnittraten nicht länger hinnehmbar seien. Auch das war bereits ein Durchbruch. Neben dem Druck der Fachverbände gibt es auch zunehmenden Druck von unten, von den Eltern: Der Verein Mother Hood e.V. beispielsweise, der als Elternverein gemeinsam mit anderen Fachverbänden auf die Pathologisierung und Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt aufmerksam macht, hat in der Zwischenzeit hohes Mobilisierungspotenzial. Aber das zentrale Thema ist die Entmedikalisierung von Schwangerschaft und Geburt schon seit den 1970er Jahren– der Beginn der Frauengesundheitsbewegung in Westdeutschland.

Konsens der 30

30 Organisationen haben kontinuierlich in der Arbeitsgruppe „Gesundheit rund um die Geburt“ mitgearbeitet (alle Beteiligten sind auf der Website www.gesundheitsziele.de aufgeführt). Hier nur einige Player: die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG), die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe e.V. (DGPFG), der AKF; für die Hebammen die Hochschule für Gesundheit Bochum, die Medizinischen Hochschule Hannover, die Hochschule Osnabrück und die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V.; die Universität Bielefeld (Lehrstuhl für Psychologie), das Universitätsklinikum Lübeck (Kinder- und Jugendmedizin), die Bundesärztekammer, die kassenärztliche Bundesvereinigung, die deutsche  Krankenhausgesellschaft (DKG), AOK und BARMER, GKV-Spitzenverband und sein Medizinischer Dienst (MDS), das Bundesministerium für Gesundheit (BMG), zwei Vertreterinnen der Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK), eine Vertreterin aller Frauen- und Gleichstellungsministerkonferenz der Länder (GFMK) und eine der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder (JFMK), die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen, der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD), das Robert Koch-Institut (RKI), die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und pro familia.

Es ist unschwer zu erkennen, welches Diskussionspotential in dieser Zusammensetzung steckt. Nach anfänglich schwierigen Debatten ist es den Beteiligten aber gelungen, sehr schnell konsensorientiert zu arbeiten.

Erster Schritt: Grundhaltung finden

Der wichtigste Schritt zu Beginn der Arbeit war die Einigung auf eine Grundhaltung, die das Gesundheitsziel tragen soll – nämlich: an den Ressourcen der Frauen ansetzen. Wir hatten also zu beraten und zu konzipieren, wie diese vorhandenen Fähigkeiten freigelegt und gestärkt werden sowie Unterstützung erfahren können. Und wir hatten herauszufinden, wo die Fallen einer unnötigen Pathologisierung zu finden sind – und wie wir sie beeinflussen können. Wegen der zentralen Rolle der frauenärztlich Tätigen gilt es hier, besondere Aufmerksamkeit den Fähigkeiten der Frauen, ihrer Resilienz zu widmen. Vielleicht wird geahnt, dass diese Haltung und Sicht auf das Geschehen im Laufe des Entwicklungsprozesses immer wieder aufgerufen werden musste. Zu eingefahren ist die heute vielfach vorherrschende Sicht auf Schwangerschaft und Geburt als Risikogeschehen, in das jederzeit einzugreifen Überlebenswichtig sei. Auch wenn wir sie in unserer Runde in Worten überwunden hatten: eine andere Haltung will auch geübt sein. Das haben wir wahrlich getan.

Kneifen geht nun nicht mehr

Formal ist das Gesundheitsziel eine Selbstverpflichtung der beteiligten Institutionen. Die Maßnahmen tragen den Charakter von Empfehlungen, denen man ja bekanntlich folgen kann – oder auch nicht. Das mag manche enttäuschen. Aber ich plädiere dafür, das Niveau zu sehen, auf dem wir diese Einigung miteinander getroffen haben: ganz oben nämlich. Die Bundesspitzen der beteiligten Verbände haben die Inhalte beschlossen. Die Diskussionen darum waren langwierig, äußerst kontrovers und mitunter sehr zäh. Sich hierauf zu verständigen und es als Selbstverpflichtung anzuerkennen, wird Handeln nach sich ziehen – müssen. Diejenigen, die sich auf dieses Ziel verpflichtet haben, sind quasi zur Umsetzung verpflichtet. Kneifen geht nicht, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Und das wird keine der Parteien wollen.

Das Gesundheitsziel mit seinen konkreten Teilzielen ist wie ein Pflichtenheft, das nun abzuarbeiten ist. Das wird dauern. Nicht jede Maßnahme wird mit gleichbleibend großem Engagement angegangen werden. Das hat dann weniger mit Nicht-Wollen zu tun, sondern mit der Langfristigkeit der hier angelegten Prozesse und dem ihnen innewohnenden Verschleißpotenzial. Die Gefahr, dass das eine oder andere Teilziel auf der Strecke bleibt, ist in meinen Augen durchaus real. Deshalb müssen wir nachfragen und einfordern, dass die Schritte, die wir formuliert haben, auch gegangen werden. Wir tun das auf starker Grundlage: auf gemeinsam geeinten Werten und Zielen aller Beteiligten, hinter die es nun nicht mehr zurückgeht. Und das Thema darf nicht in den Fachkreisen steckenbleiben. Denn wir haben konsequent versucht, aus der Perspektive von Frauen, Eltern und den Kindern zu denken. Das bedeutet auch, genau jene und andere benachbarte Gruppen und Institutionen miteinzubeziehen. Schwangerschaft und Geburt sind mehr als ein physiologischer Vor- gang. Hier gemachte Erfahrungen reichen weit in die individuelle und kollektive Nutzung unseres Gesundheits- und Sozialsystems.

Was ist in der Zwischenzeit geschehen – zumindest und wirklich nur ausschnittweise? Ich berichte nicht über die vielen Vorträge, die schon gehalten wurden, sondern konzentriere mich auf die Darstellung von Ereignissen, die eine breitere Wirkung entfalten können und deren Akteure potentielle Bündnispartner sind:

– Befassung verschiedener Länderparlamente (u. a. Bremen, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Hessen)
– Befassung im Frauen- und Gleichstellungsausschuss und Gesundheitsausschuss des Deutschen Städtetags (DST) (03.2017)
– Bedienung diverser Fachkongresse (u. a. DGGG, DGPFG)
– Bremer Bündnis für die natürliche Geburt: Bremer Empfehlungen zur Unterstützung der natürlichen Geburt – hat bisher als Modell für andere Bundesländer und Kommunen gewirkt (04.2015)
– Beschlüsse der Gleichstellungs- und Frauenministerinnen-Konferenz (GFMK: 10.2014 zur natürlichen Geburt und 06.2017 zum Gesundheitsziel)
– Beschluss der Jugend- und Familienministerinnen-Konferenz (JFMK: 06.2017)
– Beschluss der Gesundheitsministerinnen-Konferenz (GMK: 07.2017)
– Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (05.2017)
– Beauftragung und Bearbeitung einer S 3-Leitlinie zum Kaiserschnitt (Veröffentlichung am 13.06.2020) – Mittel von 250.000 Euro fließen in diese und die noch folgende S 3-Leitlinie zur physiologischen Geburt

Dieses nationale Gesundheitsziel ist nicht vollständig. Das bedeutet, dass Inhalte, Themen und Probleme, die nun im Umsetzungsprozess identifiziert werden, zur weiteren Formulierung hinzugezogen werden (können). Es ist also „work in progress“.

In der Zwischenzeit hat das nationale Gesundheitsziel so weite Kreise gezogen, wie noch keines zuvor. Der Kooperationsverbund www.gesund- heitsziele.de hat entschieden, dass die Erfahrungen aus den Umsetzungsstrategien dieses Gesundheitsziels auf andere Gesundheitsziele übertragen werden sollen. Die 5. Auflage ist gerade fertiggestellt und kann unter der Nr. BMG-G- 11077 bestellt werden über publikationen@bundesregierung.de. Am 28.11.2019 fand in Berlin ein sog. Dialogforum statt, finanziert vom BMG, über dessen Ergebnisse eine Online-Publikation auf der Webseite der GVG vorliegt [5]. Derzeit wird ein Strategiepapier entwickelt, das sich zielgerecht auf die Umsetzung der Länder − sowie der kommunalen Ebene beziehen soll. Und es wird in wichtigen Kreisen über einen Nationalen Geburtshilfegipfel nachgedacht, in dem die verschiedenen Themen und zu lösenden Aufgaben eine wahrnehmbare Bündelung finden könnten.

Haltung

Was geschieht, wenn Menschen ihre ureigenen Fähigkeiten nicht mehr leben (können), sondern alles an Fachleute delegieren können und wollen – wie eine Bahnung? Wie tief sitzen gerade so existenzielle Erfahrungen wie Schwangerschaft und Geburt? Tiefer als die meisten Erfahrungen im Leben, außer die, die traumatisch sind. Es fällt auf, dass weniger den eigenen Gefühlen geglaubt wird, sondern dass Testergebnisse Gewissheit bringen müssen. Es fällt auf, dass das Berühren des Bauches, das Horchen nach innen abgelöst wird vom Ultraschall, meistens als Babyfernsehen missbraucht – und dem Kind im Monitor zugewunken wird. Es fällt auf, dass in den diversen Fern- sehfilmen nie eine normale Geburt gezeigt wird, sondern in der Regel Komplikationen und Sectiones – das bildet. Es fällt auf, dass viel über den Wunschkaiserschnitt, den angeblich viele Frauen wollen, gesprochen wird. Was ist jedoch die Realität? Es fällt auf, dass Eltern die pädiatrische Praxen aufsuchen – nicht, weil ihr Kind krank ist, sondern um sich Gesundheit bestätigen zu lassen.

Junge Paare haben kaum noch andere familiale Modelle, als Ein- oder Zwei-Kind-Familien, die häufig nicht mehr am selben  Ort wohnen. Das heißt, den Berufsgruppen, die sich mit werdenden Eltern befassen, kommen weitere Aufgaben zu als nur die der Werteerhebung, der Diagnostik. Ihr professionelles Verhalten „bildet“ Haltung. Gerade frauenärztlich Tätige in der Praxis haben die bedeutsame Aufgabe, Frauen zu ermächtigen, den Bauch, das wachsende, dann strampelnde Kind fühlen zu fühlen. Ich weiß es ist schwer, nicht dauernd in Risikokategorien zu denken. Die Zuversicht, dass Frauen Schwangerschaft und Geburt bewältigen können, strahlen auch Sie aus! Lassen Sie uns das tun, was wir jeweils tun können! Miteinander!

Fazit

Wie stark bahnen Erfahrungen in Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbett Befähigungen von Frauen bzw. Eltern, sich selbst als aktive Gestalter zu erleben und die (neue) Familiensituation zu meistern? Das war eine leitende Frage bei der Entwicklung des nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“, das 2017 veröffentlicht wurde. Wir beobachten eine sich ständig steigernde Risikozuschreibung bei Schwangerschaft und Geburt. Wenig wurde darüber nachgedacht, ob und wie eine derartige Risikozuschreibung die Haltung von Frauen zum Leben, zu ihrer Verantwortung, zum „geschehen lassen“ beeinflusst. Kontrolle von vermeintlichen Risiken kann jedoch iatrogene Folgen haben, die nachhaltige Wirkung zeigen. Nicht mehr „Ich kann!“, sondern eher „Ich lass machen!“ greift um sich. Schwangerschaft ist keine Krankheit. Statt in guter Hoffnung befinden sich Schwangere heute fast durchgehend einem Zustand des Bedürfnisses nach Rückversicherung durch die ExpertInnen, die sie begleiten. Wir erleben heute die Destruktion von Fähigkeiten als Folge der Begleitung von Schwangerschaft im Medizinbetrieb.

Das nationale Gesundheitsziel nimmt eine „an Wohlbefinden und Gesundheit ausgerichtete Perspektive ein“ und dass „vorhandene Ressourcen und Potenziale (von Frauen) umfassend gefördert und eine Pathologisierung vermieden“ werden soll. Leitgedanke ist also ein positives Verständnis von Potenzial und Ermächtigung, die sog. Salutogenese. Und nicht wie sonst im Gesundheitssystem die Definition des Handelns über Risiko und Krankheitsgefährdung. Jedes der 5 Ziele ist in mehreren Teilzielen ausformuliert, für deren Umsetzung Empfehlungen formuliert wurden. Und diese sind den institutionellen AkteurInnen sowie relevanten Berufsgruppen und MultiplikatorInnen zugeordnet. Auf Seiten der GMK, GFMK und JFMK sind entsprechende Umsetzungsbeschlüsse gefasst worden.

Schlüsselwörter:
Nationales Gesundheitsziel, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Salutogenese, frauenärztliche Beratung

Korrespondenzadresse:
Dipl.-Psych. Ulrike Hauffe, Ehrenmitglied der DGPFG
Bremer Landesfrauenbeauftragte a.D.
ulhauffe@t-online.de

Slide Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“: Eine Sensation in vielerlei Hinsicht Gyne 05/2020

Gyne 03/2020 – Gewalt gegen Frauen – die Schlüsselrolle der frauenärztlichen Praxis

Gyne 03/2020

Gewalt gegen Frauen – die Schlüsselrolle der frauenärztlichen Praxis

Autorin:

  C. Schumann

Einleitung
Gewalt gegen Frauen ist häufig. In der aktuellen Pandemie-Situation mit den Folgen von erzwungener Isolierung, fehlenden Rückzugsräumen und wirtschaftlicher Bedrohung scheint häusliche Gewalt zudem noch zuzunehmen. Frauenärztliche Praxen spielen eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Frauen, die Gewalt erfahren haben: Sie sind in vielen Fällen erste Anlaufstelle und nehmen eine Schlüsselposition die weitere Betreuung ein. Das gilt für aktuelle häusliche Gewalt ebenso wie für frühere Erlebnisse. Frauenärzt*innen sollten ein offenes Ohr haben für die Thematik, das Erlebte anerkennen sowie Zusammenhänge erkennen können zwischen erlittener Gewalt und möglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Es ist wichtig, die Frauen je nach Bedarf zu unterstützen und an entsprechende Schutz- und Hilfsangebote weiter zu vermitteln. Es lohnt sich, dafür spezielle Fortbildungsangebote anzubieten und wahrzunehmen: Im Sinne einer Win-win-Situation erhöht sich die Chance für alle Beteiligten für ein besseres Verständnis und eine zielgerichtete Betreuung und Behandlung.

„Jede vierte Frau …“
Die Zahlen sind lange bekannt. Sie erschrecken. Die Ergebnisse einer großen und unverändert aktuellen Studie zum Ausmaß der Gewalt gegen Frauen [1], bei der > 10.000 Frauen im Alter zwischen 16 und 85 Jahren befragt wurden, belegen:
37 % der befragten Frauen haben nach ihrem 16.Lebensjahr mindestens einmal körperliche Gewalt erlebt; davon umfassten zwei Drittel mittlere bis schwere Taten, bei denen die Frau verletzt wurde und erhebliche Angst hatte,
13 % gaben an, sexuelle Gewalt durch Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder Nötigung zu sexuellen Handlungen erlitten zu haben. 58 % der Frauen berichteten über unterschiedliche Formen sexueller Belästigung,
42 % der Frauen hatten verschiedene Formen psychischer Gewalt erlebt, wie Drohungen, Verleumdungen, Kontaktverbote,
25 %, demnach jede 4. Frau, berichteten über häusliche Gewalt; darunter versteht man körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft (durch aktuelle oder frühere Partner); bei 40 % dauerte die Gewaltbeziehung länger als ein Jahr, bei 40 % sogar länger als fünf Jahre.

Die Zahlen zeigen: Gewalt gegen Frauen ist ein großes Problem. Es ist entscheidend für die Frauengesundheit und damit ist es ein wichtiges Thema für die frauenärztliche Praxis. Und das Thema ist in diesen Zeiten der weltweiten CoViD-19-Bedrohung aktueller denn je: Laut einer Pekinger Frauenrechtsorganisation war die Zahl der Betroffenen von häuslicher Gewalt, die sich während der verordneten Quarantäne an die Hilfsorganisation gewandt haben, dreimal so hoch wie zuvor [2]. Erste Erfahrungen aus telefonischen Beratungsstellen weisen darauf hin, dass in Deutschland mit einer ähnlichen Zunahme zu rechnen ist.

Gewalt hat Folgen
Gewalt hat Folgen für die allgemeine und die reproduktive Gesundheit von Frauen (Tab. 1, S. 40). Körperliche Verletzungen sind das eine: Sie müssen und können erkannt sowie versorgt werden. Für die frauenärztliche Praxis sind andere Formen von Gewalterfahrung ebenso wichtig. Früher erlebte Gewalt kann sich niederschlagen in chronischen Unterbauchschmerzen und Infektionen. Frauen, die Gewalt erfahren haben, zeigen später eher ein riskantes reproduktives Verhalten, sie werden häufiger ungewollt schwanger und leiden vermehrt unter STI und Infertilität. Sie haben mehr mit Depressionen, Ängsten, Schlafstörungen, gestörtem Selbstwertgefühl und Essstörungen zu tun. Zur Bewältigung von Bedrohung flüchten manche in Alkohol und Drogen. Bekannt ist, dass die Schwangerschaft eine besonders sensible Phase ist: Viele Frauen berichten, dass Partner erstmalig in der Schwangerschaft oder nach der Geburt gewalttätig wurden [3]. Gewalterfahrungen in der Schwangerschaft können zu Komplikationen führen, zu einem erhöhten Risiko für Früh- und Fehlgeburten, Blutungen und für Wachstumsretardierung, wie in einem umfassenden aktuellen Review erneut belegt werden konnte [4].

Die Palette der gesundheitlichen Belastung ist groß. Umso erstaunlicher ist es, dass das Thema „Gewalt“ bislang in der frauenärztlichen Weiterund Fortbildung keine wesentliche Rolle spielt. Bei einer Durchsicht von Programmen der großen gynäkologischen Fortbildungstagungen der letzten Jahre, seien es FOKO/ Düsseldorf oder regionale und überregionale DGGG-Tagungen, fällt auf, dass das Thema nahezu nicht präsent ist. Ein ähnlicher blinder Fleck scheint auch im frauenärztlichen Alltag vorzuherrschen: Obwohl Gewalterfahrungen eine große Rolle FÜR die Entstehung von Krankheit und die Stabilität der Gesundheit zeitigen, gehört es (noch) nicht zur Routine, Frauen bei der Anamnese gezielt danach zu fragen. So ergab eine Berliner Studie [5], durchgeführt in einer Erste-Hilfe-Ambulanz: Mehr als zwei Drittel der befragten Frauen Befürworten eine Frage nach Gewalt als Teil der Anamnese, aber nur 8 % aller Befragten sind jemals von ihrem Arzt/ ihrer Ärztin nach Gewalterfahrung befragt worden. Es ist, als ob Frauenärzt*innen spürten, dass sie sich bei der Begegnung mit dieser Thematik einer „Risikozone“ [6] näherten. Bei der ärztlichen Zurückhaltung spielt dabei sicher eine gewisse Scheu eine Rolle, der Frau nicht zu nahe treten zu wollen, aber auch die Unsicherheit: Wie dann weiter?

Grundsätze für die frauenärztliche Praxis
Gesichert ist: Das Wissen um eine Gewalterfahrung ist wichtig FÜR das Verständnis von Erkrankungen und Verhalten von Patientinnen und für deren medizinische Betreuung. Es gibt international anerkannte Standards, um vor allem häusliche und sexualisierte Gewalt zu erkennen und die Frauen sensibel zu betreuen.

Dazu gehören die Leitlinien der WHO zum Umgang mit Gewalt gegen Frauen [7]. Eine deutsche Leitlinie existiert (noch) nicht. Es gibt eine Stellungnahme der DGGG von 2010, die aktuell in Überarbeitung ist. Die Politik hat auf Bundesund Länderebene Aktionspläne zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen entwickelt. Aus dem großen Modellprogramm „Medizinische Intervention gegen Gewalt an Frauen“ (MIGG), das von 2008–2011 speziell FÜR den Bereich der niedergelassen Ärztinnen und Ärzte konzipiert wurde, liegen Erfahrungen vor, die in einen Implementierungsleitfaden eingeflossen sind (8).

Zusammengefasst geht es um
– das Schaffen einer traumasensiblen Atmosphäre unter Einbeziehung des gesamtem PraxisTeams,
– das Denken an Gewalt, das Wahrnehmen, Ansprechen und Anerkennen des Geschehenen,
– eine gründliche und dabei traumasensible Untersuchung,
– die Dokumentation (evtl. gerichtsfest, in Absprache mit der Frau)
– das Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses ebenso wie die Vermittlung von Unterstützungsangeboten.

Diese Punkte gelten ganz allgemein für den frauenärztlichen Alltag. Sie erscheinen machbar! Was im Einzelfall wirklich erforderlich ist, kann in Abhängigkeit vom Bedarf der Frau sehr unterschiedlich sein. Um eine adäquate Versorgung von Frauen zu erreichen, wird von Expertenseite eine Schulung von Gesundheitsfachkräften empfohlen [8, 9]. Das macht großen Sinn, denn letztlich führt der adäquate Umgang mit Gewalt-Betroffenen zu einer Win-win-Situation für beide: Die Frauen profitieren davon, dass ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem, was sie erlebt haben, und ihrem Befinden und dass über das Verständnis eine Behandlung ermöglich wird. Sie werden ernst genommen und darin gestärkt, auf ihre Art einen Weg aus der Bedrohung zu finden, unabhängig davon, ob sie früher geschah oder noch andauert. Für die Behandelnden werden Beschwerden und Verhaltensweisen besser erklärlich. Sie lernen zu verstehen, dass jede Frau ihren eigenen Weg gehen muss, dass manch´ gut gemeinter Ratschlag nichts fruchtet: Es mag sein, dass die Frau trotzdem wieder zum Partner zurückgeht oder dass sie beim Alkohol bleibt. Manche unnötige Untersuchungen (wie zum Beispiel eine wiederholte Bauchspiegelung wegen chronischem Unterbauchschmerz) können unterbleiben mit einem psychosomatischen trauma-orientierten Ansatz, andere Behandlungswege öffnen sich. Die Weiterleitung von betroffenen Frauen in ein kompetentes Netzwerk – Beratungsstellen, Psychotherapeut*innen, Hebammen – kann zudem die ärztliche Praxis entlasten.

Traumasensible Atmosphäre
Das Thema Gewalt anzusprechen ist nicht einfach, weder für die Frau noch für die Fachleute im Gesundheitssystem. Leichter wird es, wenn der Frau schon im Wartebereich signalisiert wird: Hier kennt man das Thema. Das erreicht man z. B. mit Postern vom Hilfetelefon gegen Gewalt, mit einem Aushang über das örtliche Frauenhaus und mit entsprechenden Info-Kärtchen – letztere am besten im Toilettenbereich, wo sie unbemerkt eingesteckt werden können. Wichtig ist die Fortbildung des Praxis-Teams: Ein später Beginn der Schwangeren-Vorsorge, ein Nicht-Erscheinen zum vereinbarten Termin, ein besonders „aufmerksamer“ Partner, der der Frau nicht von der Seite weicht, können unspezifische Hinweise dafür sein, dass „etwas nicht stimmt“, dass Gewalt im Spiel ist. Wenn die Mitarbeiterinnen dafür sensibilisiert sind, können sie adäquat verständnisvoll reagieren und vor allem die Ärzt*innen vorab informieren.

Ansprechen, Wahrnehmen, darüber Sprechen
Im Praxis-Alltag gibt es unterschiedliche Situationen: Häufiger als Frauen, die offensichtlich durch Gewalt verletzt wurden oder verstört sind, sind die vielen, denen auf den ersten Blick nichts anzumerken ist. Wenn uns als Ärzt*innen tatsächlich klarer bewusst ist, wie häufig Gewalt gegen Frauen ist, dass sie alle gesellschaftlichen Schichten betrifft und schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann, fällt es leichter, im Standard-Anamnese-Gespräch offen danach zu fragen: „Ich weiß, dass viele Frauen Gewalt erlebt haben. Daher frage ich alle Patientinnen danach. Es ist wichtig, davon zu wissen, weil erlebte Gewalt gesundheitliche Folgen haben kann.“ Die Erklärung, warum die Frage erfolgt, kann es der Frau erleichtern, davon zu berichten: Es geht nicht um ein „abhaken“, sondern darum, dass die Frage mit ihrer Gesundheit oder eventuellen Beschwerden etwas zu tun hat. Und auch Frauen, die die Frage zunächst verneinen, können so ermutigt werden, bei späterer Gelegenheit auf das Thema zurück zu kommen. Ob es sinnvoll ist, im Sinne eines Screenings die Frage nach Gewalt in den vielerorts üblichen Anamnesebogen zu integrieren, oder ob man besser individuell fragen sollte, wird unterschiedlich diskutiert [10]. Auch wenn die Frau schon länger bekannt ist, macht es Sinn, gelegentlich das Thema wieder anzuschneiden. Das gilt besonders für die Zeit der Schwangerschaft und nach der Geburt: Es ist bekannt, dass Frauen oftmals gerade dann erstmalig Gewalt durch den Partner erleben [3].

Wichtig ist in jedem Fall, dass der Arzt/ die Ärztin vorbereitet ist, wie sie mit einer Bejahung der Frage umgeht. Die Aufdeckung des Fakts ist allein noch nicht hilfreich, wohl aber das empathische Zuhören und Ernstnehmen. Von zentraler Bedeutung auch im Rahmen einer späteren Bearbeitung des Traumas ist die „Anerkennung durch einen Dritten, durch eine fördernde Umwelt“ [6]. Wichtig ist dafür eine vertrauliche Gesprächsatmosphäre unter vier Augen, vor allem ohne den „übermäßig aufmerksamen“ Partner, der mit seiner Fürsorge verdeckt, dass er sich Sorgen macht darüber, was die Frau berichten könnte. Der Rahmen des Gesprächs muss abgesteckt werden. Die betroffene Frau sollte wissen: Ihre Antworten werden vertraulich behandelt, sie werden nicht angezweifelt und auch nicht weitergeleitet. Es geht nicht um eine vertiefte Exploration oder gar um eine Schuldzuweisung, sondern um eine stärkende Bestandsaufnahme: Geht es um frühere Gewalterlebnisse, die eventuell jetzt noch eine Rolle spielen können? Hat die Frau akut Schutzbedarf? Wie kann sie im Sinne des Empowerments [11] darin unterstützt werden, selbst Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen? Macht sie sich Sorgen um die Kinder? Braucht sie psychologische/ psychotherapeutische Unterstützung? Dafür ist es wichtig, entsprechende Angebote und Netzwerke zu kennen (s. unten).

Die Empfehlungen zur Ersthilfe der WHO [9] im Kontext von häuslicher und sexueller Gewalt fokussieren auf den Handlungsschritten: „Listen – Inquire – Validate – Enhance safety – Support“. (Gut übersetzt in der deutschen Ausgabe: „Zuhören – Bedürfnisse und Sorgen erfragen – Bestätigen – Sicherheit erhöhen – Unterstützen“.)

Manchmal gibt es auch klinische Auffälligkeiten, die weitere Fragen nahelegen. Bestimmte körperliche Verletzungen können Hinweise sein auf Gewalterfahrungen. Dazu gehören Verletzungen in unterschiedlichen Abheilungsstadien, besonders an den Unterarmen und Händen (Abwehrverletzungen), in Gesicht und Hals. Dann sollte möglichst konkret gefragt werden: „Ich erlebe häufig, dass solche Verletzungen von einer anderen Person verursacht wurden. Kann das sein, hat Sie jemand geschlagen/ geschubst/…?“ Auch seelische Veränderungen können der Anlass für eine Vermutung sein: „Sie wirken heute verändert, sehr unruhig und bedrückt. Gibt es etwas, dass Ihnen besondere Sorgen macht, haben Sie Angst vor jemandem?“ Natürlich ist zu respektieren, wenn die Frau solche Fragen verneint oder vage Erklärungen angibt. Sie kann ihre Gründe dafür haben, hat vielleicht Angst vor dem Partner oder den Konsequenzen für die Familie, wenn sie etwas offenbart. Es ist gut, als Arzt/Ärztin die eigenen Sorgen mitzuteilen: „Ich mache mir Gedanken um Ihre Gesundheit, Ihre Sicherheit. Sie können wiederkommen, wir versuchen Ihnen hier weiter zu helfen. Ich möchte Ihnen gerne eine Notfallkarte mitgeben, mit Telefonnummern, an die Sie sich wenden können, z. B. das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen.“

Traumasensible gynäkologische Untersuchung / Umgang mit Dissoziation
Ganz unabhängig davon, ob eine Gewalterfahrung bekannt ist, sollte natürlich jede gynäkologische Untersuchung „sensibel“ sein. Denn auch wenn diese Untersuchung für uns als Ärzt*innen Routine ist, bedeutet sie für jede Frau einen Eingriff in ihre Intimsphäre. Wann sonst oder wem sonst zeigt sie sich nackt mit auseinander gespreizten Beinen? Studien belegen, dass jede zweite Frau die Untersuchung als unangenehm bis sehr unangenehm empfindet, und dass nicht wenige deshalb nicht oder nur selten zu Früherkennungs-Untersuchungen gehen [12].

Eigentlich ist es einfach, traumasensibel zu untersuchen, manches wirkt sogar banal. Die Kunst ist, sich das Vorgehen als Standard anzugewöhnen: Die Zustimmung der Frau für die Untersuchung einholen – ihre Scham- und Schmerzgefühle respektieren – ein Stopp-Signalvereinbaren, das respektiert wird – jeden Untersuchungsschritt ankündigen und erklären – im (Blick)-Kontakt mit der Frau bleiben – Befunde kurz erklären mit dem Hinweis auf eine ausführliche Erörterung nach Abschluss der Untersuchung [13]. Ob eine Arzthelferin bei der Untersuchung anwesend sein soll bzw. kann, sollte vorab mit der Frau geklärt werden. Auf keinen Fall sollte unangekündigt eine dritte Person während der Untersuchung den Raum betreten.

Es kann vorkommen, dass ein Untersuchungsschritt oder sogar ein Satz als sogenannter Trigger wirkt, als Auslöser für unerwartete Reaktionen. Die Berührung in der Scheide, die Hand auf dem Bauch, das Einführen des Ultraschall-Stabs, Sätze wie „es ist gleich vorbei“ / „es tut nicht weh“ – alles kann alte Emotionen wecken, die mit der Gefahrensituation verbunden sind. Das kann sich mit körperlichen Reaktionen wie Schwitzen und unregelmäßigem Atmen ankündigen. Manchmal gelingt es, durch bewusstes Abbrechen der Untersuchung die Frau zu konsolidieren. Manchmal wird sie so schnell überflutet, dass der Körper mit Dissoziation reagiert und sich so vor den anflutenden Emotionen schützt: Die Frau wirkt abwesend, fast bewusstlos, sackt in sich zusammen, die Augen blicken ins Leere. Sie ist „weggetreten“. Diese Form des Selbstschutzes kann erschrecken, sie ist aber nicht gefährlich. Wichtig ist, die einfachen Methoden zu kennen, mit deren Hilfe man die Frau in die Realität „zurückholen“ kann [14]: „Frau Maier, ich bin Frau Dr. Müller, ihre Ärztin; Sie sind in meiner Praxis.“ „Ich berühre jetzt vorsichtig Ihren rechten Arm, können Sie das fühlen?“ „Bitte zählen Sie rückwärts von 10 bis 1“. Nach dem Erlebnis wird die Frau erschöpft sein und braucht vielleicht Hilfe, sich zu sortieren. Besonders wenn sie so eine Reaktion bislang nicht kannte, sollte sie ihr erklärt und sie auf die Möglichkeiten einer Traumatherapie hingewiesen werden.

Dokumentation
In vielen Artikeln zum Umgang mit gewaltbetroffenen Menschen findet sich der Hinweis auf die erforderliche „gerichtsfeste Dokumentation“: Damit gemeint sind Fotos der Verletzungen mit Maßstab, eine exakte Beschreibung der Befunde und Einzeichnung der Befunde in KörperSchemata. Das kann sehr wichtig sein für eine spätere juristische Verfolgung der Tat. Auch wenn es dafür gute Hilfen gibt, z. B. die Med-DocCard© (zu beziehen über www. frauenundgesundheit-nrw.de/dokumentationshilfen/) oder die Dokumentationsbögen des Fachverbands S.I.G.N.A.L. (www.signal-intervention.de), schreckt der damit verbundene Aufwand erfahrungsgemäß manche Kolleg*innen ab. Manche/r fragt sich: Gehört das zu meinen ärztlichen Aufgaben? Neben der eigenen fachlichen Unsicherheit im Kontakt mit der „Risikozone“ ist das aus meiner Erfahrung für nicht wenige ein weiterer Grund, sich der Thematik Gewalt insgesamt nicht anzunehmen.

Dabei dokumentieren wir doch alle täglich ganz selbstverständlich, was wir erfahren, finden und machen. In vielen Fällen genügt genau das auch für die Konsultation von Frauen, die Gewalt erlebt haben. Es geht oft um frühere Erfahrungen, die jetzt einen chronischen Schmerz, eine Essstörung, eine unzureichende Kontrazeption oder eine depressive Grundstimmung miterklären können. Da geht es vorrangig um die Bewältigung der gesundheitlichen Folgen, weniger um die juristische Verfolgung. Wenn die Frau in solchen Fällen eine gerichtsfeste Dokumentation benötigt, d. h. ein exaktes Protokoll ihrer Angaben, wird der Impuls dazu von der Frau selbst ausgehen.

Anders ist es, wenn die Frau verletzt ist, akut Gewalt erlebt oder bedroht wird, wie bei häuslicher Gewalt. Dann sollte sie in jedem Fall darüber informiert werden, dass sie ein Recht hat, die Tat/den Täter anzuzeigen. Und dass dafür ihre Angaben und alle Befunde exakt dokumentiert werden müssen. Sie muss dieser „gerichtsfesten Dokumentation“ ausdrücklich zustimmen, kann sie aber auch ablehnen (was wiederum dokumentiert werden sollte). Für diese Situation ist dann die Digital-Kamera erforderlich, die Dokumentationsbögen incl. Körperschema sollten griffbereit sein. Das Ausfüllen erfordert einigen Zeitaufwand und durchaus auch Übung und Kompetenz. Auch eine online-Dokumentation ist möglich (Anleitung unter https://gobsis.de/). Sicherheit gewinnt man auf speziellen Fortbildungen, wie sie z. B. von den Beratungsstellen S.I.G.N.A.L/ Berlin und GESINE-Netzwerk Gesundheit.EN/ Schwelm angeboten werden.

Abklären von Schutzbedürfnis / Vermitteln von Unterstützungsangeboten
Ärztliche Praxen sind oft die erste Anlaufstelle für Frauen, die (häusliche) Gewalt erleben oder erlebt haben [15]. Der Grund: Sie sind einfach erreichbar und wecken kein Misstrauen bei anderen Personen. Ärzt*innen genießen außerdem ein hohes Vertrauen, dass sie ihnen Anvertrautes nicht weitergeben („Arztgeheimnis“) und dass sie Hilfe wissen [16].

Genau das ist die Rolle, die frauenärztliche Praxen übernehmen können. Zuhören, ernst nehmen, bestätigen, dass Unrecht geschieht oder geschehen ist, die Frau unterstützen und auf ihrem Weg der Auseinandersetzung stärken. Das kann oft lange dauern. Viele gewaltbetroffene Frauen durchlaufen mehrere Phasen der Reflektion über das, was ihnen zustößt. Über längere Zeit kann das Verhalten des gewalttätigen Partners als „absichtslos“ erlebt werden, „nur wenn er betrunken ist“, oder als Reaktion auf eigene Fehler. Man nennt das auch den „Kreislauf der Gewalt“: Spannungsaufbau – akute Misshandlungen – “Ruhe und Reue“ – Spannungsaufbau – … Bis aus ersten Erwägungen für Veränderungen tatsächlich Handlungen resultieren, findet oft ein langwieriger Prozess statt. Das zu wissen und einzukalkulieren, dass Hilfsangebote nicht angenommen werden, kann ärztlichen Frustrationen vorbeugen. Ähnlich schwierig kann es für eine Frau sein, sich bewusst zu machen, dass gesundheitliche Probleme wie z. B. chronische Unterleibsschmerzen oder Vaginismus auch mit früheren Gewalterfahrungen zu tun haben können, und dass zur Bewältigung eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll sein kann.

Frauenärzt*innen sollten entsprechend wissen, wo Unterstützung zu finden ist. Überregional und rund um die Uhr ist das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ erreichbar, an 365 Tagen im Jahr unter der Telefonnummer 08000 116 016 und online unter www.hilfetelefon.de. Qualifizierte Beraterinnen informieren und beraten gewaltbetroffene Frauen sowie Personen aus deren sozialen Umfeld– kostenlos, anonym und vertraulich. Bei Bedarf können Beratungen in 17 Fremdsprachen sowie in Deutscher Gebärdensprache und in Leichter Sprache durchgeführt werden. Kärtchen mit den Kontaktdaten des Hilfetelefons sollten in jeder frauenärztlichen Praxis so platziert sein, dass Frauen sie unauffällig mitnehmen können. Eine weitere wichtige Informationsquelle ist die Plattform des bff e.V. (Bundesverbands Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe) www.frauen-gegengewalt.de/de/hilfe-beratung.html, auf der sich bundesweit über 180 Frauennotrufe und Frauenberatungsstellen mit aktuellen Informationen zusammengeschlossen haben. Auch auf den schon erwähnten Internetseiten der Fachberatungsstellen S.I.G.N.A.L (www.signal-intervention.de) und gesine (https://www.gesine-intervention.de) finden sich hilfreiche Informationen für Betroffene.

Darüber hinaus ist es gut, in der Praxis eine Liste mit regionalen Angeboten zur Hand zu haben über Beratungsstellen und Schutzangebote, die betroffene Frauen mitnehmen können. Entsprechende Informationen kann man mancherorts über einen „Runden Tisch gegen Gewalt“, alternativ auch über die Polizei erhalten. Die eigene Integration in entsprechende Netzwerke ermöglicht einen persönlichen Kontakt zu Fachleuten (Beraterinnen, Hebammen, Psychotherapeut*innen), die sich speziell in der Betreuung von Frauen mit Gewalterfahrung auskennen. So können Frauen direkt an entsprechende Expertinnen vermittelt werden. Suchmaschinen für Angebote in der Nähe sind: www.frauengegen-gewalt.de/hilfe-vor-ort.html undwww.frauenhauskoordinierung.de/ hilfe-bei-gewalt/frauenhaussuche.

Spezifische Angebote auch für chronische Folgen von Gewalt (im Sinn des posttraumatischen Belastungssyndroms, PTBS) sind zusätzlich bei den psychosomatischen Versorgungs-Netzwerke zu finden, die unter anderem in Berlin, Hamburg, Dresden, Köln, Frankfurt existieren (http://dgpfg.de/dlt/kooperationen/).

Fazit
Gewalt hat gesundheitliche Folgen. Das gilt für Erlebnisse in der Kindheit und Jugend sowie in der aktuellen Lebenssituation. Viele Frauen sind davon betroffen. Frauenärzt*innen kommt eine Schlüsselrolle zu, indem sie Frauen darauf ansprechen, ihnen zuhören, Anzeichen für Gewalt erkennen, Zusammenhänge zwischen Gewalt und gesundheitlichen Folgen bei Diagnostik und Therapie einbeziehen, Frauen stärken, ihre Schutzbedürfnisse abklären und sie weiter vermitteln. Ein weites Feld! Mehr Aufmerksamkeit für die Thematik und mehr spezifische Angebote auf frauenärztlichen Fach-Tagungen sind wünschenswert.

Schlüsselwörter: Gewalt gegen Frauen, häusliche Gewalt, Auswirkungen von Gewalterfahrungen, Ersthilfe, Schlüsselfunktion der frauenärztlichen Praxis

Korrespondenzadresse:
Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin/ Psychotherapie
Mitglied im Beirat der DGPFG
Hindenburgstr. 26
37154 Northeim
www.dr-claudia-schumann.de

Slide Gewalt gegen Frauen - die Schlüsselrolle der frauenärztlichen Praxis Gyne 03/2020

Literatur:

  1. Müller U, Schröttle M. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zur Gewaltgegen Frauen in Deutschland. 2004, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)
  2. Kretschmer, F. Zu Hause gefangen, taz vom 9.3.2020
  3. Gabrys M. Sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen Risikofaktor in Gynäkologie und Geburtshilfe. 2019; 52 (12): 951–962
  4. Pastor-Moreno G et al. Intimate partner violence and perinatal health: a systematic review. BJOG 2020; Vol.127 537-547: DOI: 10.1111/1471-0528.16084
  5. Brzank P et al. Häusliche Gewalt gegen Frauen: Gesundheitsfolgen und Versorgungsbedarf – Ergebnisse einer Befragung von Erste-Hilfe-Patientinnen im Rahmen der S.I.G.N.A.L.-Begleitforschung. Gesundheitswesen 2004; 66(3): 164–169
  6. Kreuzer-Haustein U. Trauma und die innere Arbeit des AnalytikersZur Verdinglichung des Traumabegriffs und zur Anerkennung des Traumas. In: Baumann, J. et al (Hrsg.): Wenn Zeit nicht alle Wunden heilt. 2020; Klett-Cotta Stuttgart
  7. WHO (2013) Responding to intimate partner violence and sexual violence against women: WHO clinical and policy guidelines. Dt. Ausgabe: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen. Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik. © S.I.G.N.A.L. e.V. Lektorat: M. Winterholler, K. Wieners, H. Hellbernd
  8. Sellach B et al. Implementierungsleitfaden zur Einführung von Interventionsstandards in die medizinische Versorgung von Frauen. BMFSFJ 2011; Art.Nr. 4BR82
  9. WHO (2014). Health care for women subjected to intimate partner violence or sexual violence – A clinical handbook; Deutsche Übersetzung: Gesundheitliche Versorgung von Frauen, die Gewalt in der Paarbeziehung oder sexuelle Gewalterfahren; ©S.I.G.N.A.L. e.V. 2014; Übersetzung und Lektorat: Karin Wieners, Marion Winterholler
  10. Steffens Vorgehen bei häuslicher Gewalt. FRAUENARZT 1-2015
  11. Campbell JC. (Hg.) (1998) Empowering survivors of abuse: Health care for battered women and their children. Sage Series on Violence Against Women. Thousand Oaks, London, New Delhi
  12. Gras C. Konzepte zur Verbesserung der gynäkologischen Untersuchung. FRAUENARZT 3/2019: 168–172
  13. Schumann C. Die frauenärztliche Untersuchung: Umgang mit dem Eingriff. Frauenheilkunde mit Leib und Seele. Psychosozial-Verlag 2017; 45–49
  14. Büttner M. Sexuelle Störungen nach sexueller Gewalt. Gyne 4/2019: 28 – 33
  15. Brzank P. Wege aus der Partnergewalt. Frauen auf der Suche nach Hilfe. Wiesbaden 2012; Springer VS.
  16. Feder G. et al. Women exposed to intimate partner violence: expectations and experiences when they encounter health care professionals: a metaanalysis of qualitative studies. Archices of Internal Medicine, 2006. 166: 22–37

Gyne 01/2020 – Die Pille im Negativ-Trend – Konsequenzen für die Verhütungsberatung in der Praxis

Gyne 01/2020

Die Pille im Negativ-Trend – Konsequenzen für die Verhütungsberatung in der Praxis

Autorin:

  C. Schumann

 

   

Aktuelle Zahlen aus Deutschland belegen die tägliche Erfahrung vieler Frauenärzt*innen: Gerade jüngere Frauen wollen nicht mehr mit der Pille verhüten. Sie machen sich zunehmend Sorgen um ihre Gesundheit und suchen eine ungefährlichere und dennoch sichere Methode der Kontrazeption. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Kontrazeptionsberatung in den frauenärztlichen Praxen? Was ist notwendig für eine informierte Beratung und Entscheidung?

Neue Daten zum Verhütungsverhalten:

Mehr Kondome, weniger Pillen Die aktuelle Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) [1] belegt eine Tendenz, die viele Ärzt*innen aus der täglichen Praxis kennen: Die Pille liegt nicht mehr im Trend. Sie ist zwar weiterhin die Nummer 1 bei den Verhütungsmethoden, aber die Kondom-Nutzung hat deutlich aufgeholt. 47%der befragten Frauen und Männer benennen die Pille als Verhütungsmethode, 46%nutzen das Kondom– d. h. beide Methoden finden nahezu gleich häufig Verwendung (_ Abb. 1). Das ist eine deutliche und verblüffende Veränderung zu den Daten von 2011, als noch mehr als die Hälfte (53%)der Befragten die Pille als Methode der Wahl angaben und nur ein gutes Drittel (37%) das Kondom.

Bei den anderen Verhütungsmethoden gibt es keine wesentlichen Veränderungen. Die Spirale liegt unverändert bei 10 %. Bei der Sterilisation des Mannes wie der Frau sind die Zahlen leicht rückläufig, beide Methoden werden von 3%der Befragten angegeben. Die Anwendung der Temperaturmethode hat sich zwar verdoppelt, sie wird aber weiterhin aktuell nur von 2 % der Befragten angewendet, ebenso häufig wie der Vaginalring. An letzter Stelle mit 1% der Angaben liegt unverändert die 3-Monatsspritze.

Die BZgA-Studie

Die repräsentative Wiederholungsbefragung „Verhütungsverhalten Erwachsener 2018“ wurde im Dezember 2018 durchgeführt, erste Daten wurden im Oktober 2019 veröffentlicht. An der Studie haben 992 sexuell aktive Frauen und Männer im Alter von 18−49 Jahren teilgenommen. Dafür wurden Computergestützte telefonische Interviews (CATI) durchgeführt. Gefragt wurde nach dem Verhütungsverhalten, dem Informationsverhalten, den präferierten Informationsquellen und der Einschätzung des eigenen Wissens.

Die Ergebnisse sind besonders relevant, weil die Studie im Kern eine Wiederholung darstellt von ähnlichen Befragungen aus den Jahren 2003, 2007 und 2011. Deshalb können Entwicklungen über die Zeit dargestellt und verglichen werden.

Verhütung: Änderungen stark altersabhängig

Besonders auffällig ist, dass in der jungen Altersgruppe der 18- bis 29- Jährigen der Anteil der Pillennutzerinnen innerhalb der vergangenen sieben Jahre um 16% gesunken ist (von 72 auf 56 %). In dieser Altersgruppe wird inzwischen das Kondom genauso häufig wie die Pille als alleiniges Verhütungsmittel verwendet (35%zu 34 %) – aber auch sehr häufig in Kombination. Damit wird eine doppelte Sicherheit erwartet und hergestellt, vor ungewollter Schwangerschaft ebenso wie vor sexuell übertragbaren Erkrankungen: Die jungen Frauen gehen umsichtig und vorsichtig mit ihrer sexuellen Gesundheit um.

Neu ist auch: Im Gegensatz zu 2011 liegt der Schwerpunkt in der Altersgruppe 30−39 Jahre nicht mehr auf der Pille. Die Verhütung mit dem Kondom weist in dieser Altersgruppe den größten Zuwachs auf (plus 11 %), während dieVerluste der Pille immerhin 6% betragen. Das führt dazu, dass Kondom und Pille für die Gruppe der Frauen in den Dreißigern heute ebenfalls Verhütungsmittel von gleichem Rang sind.

Informationsquellen und Wissensstand

Frauenärztinnen und Frauenärzte übernehmen laut Studie weiterhin eine sehr wichtige Rolle bei der Verhütungsberatung: 80% der befragten Frauen benennen sie als wichtigste Informationsquelle für ihre angewendete Verhütungsmethode. Männer reden anscheinend nicht mit Ärzt*innen über Verhütung: Sie beziehen ihre Informationen zu 40% aus dem Internet und folgen zu ebenfalls 40%Ratschlägen von Familienangehörigen, Freunden oder greifen auf das erworbene Wissen aus Schulzeiten zurück.

Kaum jemand fühlt sich über die angewendete Verhütungsmethode schlecht informiert. Die Antwort „weniger gut informiert“ nennen nur 5 % der Befragten, und als „schlecht“ informiert sehen sich lediglich 2 %an. Kritisch ist dabei anzumerken, dass Gefühl und Realität der Informiertheit nicht übereinstimmenmüssen.

Die Informiertheit ist allerdings geschlechtsabhängig: Während sich Frauen zu 71% als „sehr gut“ informiert bezeichnen, umfasst dieser Anteil bei Männern nur 55%. Unterscheidet man nach Alter, so fällt auf, dass vor allem die jungen Frauen unter 30 Jahren von ihrem Wissensstand überzeugt sind. Als mindestens „gut“ informiert sieht sich ausnahmslos jede junge Frau (100%). Bei den jungen Männern unter 30 schätzen sich nur 88%als „gut informiert“ ein.

Kritische Beurteilung der „Hormone“

Die aktuellen Studienergebnissen zeigen insgesamt eine eher kritische Einstellung zu hormonellen Verhütungsmethoden. Mit 48 % stimmt fast die Hälfte aller Befragten der Aussage zu, dass die Verhütung mit Hormonen „negative Auswirkungen auf Körper und Seele“ hat (_ Abb. 2). Von den befragten Frauen, also den potenziellen Pillen-Nutzerinnen, stimmen sogar 55% dieser Aussage zu. Bemerkenswert ist, dass auch jede dritte Frau, die die Pille nimmt (38% der Anwenderinnen), eine negative Auswirkung der Pille unterstellt. Man kann annehmen, dass viele davon zumindest ein ungutes Gefühl bei der täglichen Einnahme haben, sie vielleicht eher mal „vergessen“, und dass manche wegen entsprechenden Nebenwirkungen die Pille wieder absetzen.

Nur 33%finden, dass die Pille auch für sehr junge Mädchen geeignet ist. 55% lehnen die Aussage ab, man könne die Pille über Jahre hinweg unbedenklich anwenden. Je jünger die Altersgruppe, desto höher ist der Anteil derjenigen mit einer pillenkritischen Einstellung.

Sicher, praktisch, gutverträglich: Gründe für die Wahl einer Methode

Wer verhütet, will gesichert nicht schwanger werden bzw. kein Kind zeugen. Beim Vergleich zwischen Pille und Kondom liegt da verständlicherweise die Pille weit vorn, 47% der Befragten entscheiden sich deshalb für sie (_ Abb. 3). Bei der bekannten nahezu 100%igen Sicherheit der Pille betonen eher wenige diesen Vorteil. Erstaunlich ist beim Blick auf den deutlich geringeren Pearl-Index, dass 35% der „reinen“ Kondomnutzer/-innen ebenfalls vorrangig den Sicherheitsaspekt angeben. Für diese zweite Gruppe ergibt sich die Entscheidung aus einer Summation der Gründe: Hinzu kommen noch „einfach + praktisch“ (bei 22%) und vor allem bei immerhin 10% „Unverträglichkeit/Ablehnung der Pille“. Dazu passt, dass nur 11% derer, die „Pille allein“ angeben, dieser Methode eine gute Verträglichkeit bzw. wenig Nebenwirkungen zuschreiben.

Hier muss angesetzt werden: Welche Nebenwirkungen fürchten Frauen so, dass sie die Pille absetzen oder sie fast gegen besseres Wissen nehmen? Hat sich da etwas geändert im Lauf der letzten Jahre? Unter der Prämisse, dass gerade in jungen Jahren die Sicherheit der Verhütung eine extrem hohe Rolle spielt und eine ungewollte Schwangerschaft besonders schwer wiegt: Was sollten Ärzt*innen beachten bei der Beratung?

Nebenwirkung 1: Thrombose

Ein Hauptrisiko der (aus Östrogen und Gestagen) kombinierten Pillen, Erhöhung des Thrombose-Risikos, ist seit langem bekannt. Es wurde in den letzten Jahren allerdings stärker öffentlich diskutiert, oft verbunden mit dem Vorwurf an die Ärzteschaft, die „neueren“ Pillen der 3. und 4. Generation würden unverantwortlich häufig verordnet, obwohl deren Risikoprofil höher ist als bei den „alten“ Pillen mit dem Gestagen Levonorgestrel. Das Verordnungs- Verhalten der Frauenärzt*innen wurde in Zusammenhang gesetzt mit der intensiven Werbung der Pharmaindustrie, die Ärzt*innen ebenso wie Frauen beeinflusst, durch angeblich große Vorteile der neueren Pillen [2].

Diese Kritik hat anscheinend gefruchtet und zu einer merkbaren Umorientierung geführt, wie eine Analyse der entsprechenden Daten aus den Jahren 2015–2018 ergibt [3], erstellt vom Deutschen Arzneiprüfungsinstitut e.v. (DAPI). Das DAPI kann nur die Rezepte erfassen, die zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verordnet werden, d. h. es handelt sich hierbei überwiegend um die Verordnungen an junge Frauen unter 20, denn ab dem 21. Geburtstag muss die Pille bislang privat bezahlt werden. (Ab 30.3.2019 werden die Kosten bis zum 23. Geburtstag übernommen.) Während im 4. Quartal 2015 noch 2/3 mehr Packungen der 3. und 4. Generation abgegeben wurden im Vergleich zu denen der 2. Generation, ist 3 Jahre später der Absatz der Pillen der 3. + 4. Generation zusammen um ein Drittel gesunken. Der Umsatz von Pillen der 2. Generation blieb in diesem Zeitraum nahezu unverändert. Beim Vergleich der absoluten Zahlen ergibt sich: Die Abgabe-Zahlen der „älteren“ und der „neueren“ Pillen haben sich zumindest angenähert, von den Pillen der 3. und 4. Generation wurden nur noch um die 17 %mehr Packungen verschrieben als von denen der 2. Generation. Dazu kommt, dass im selben Zeitraum der Absatz der (mit Blick auf Thrombose ungefährlicheren) reinen Gestagenpräparate um rund 20 % gestiegen ist. Insgesamt ist beim Gesamtabsatz aller hormonellen Kontrazeptiva ein „Absatzeinbruch“ von 20 % zu konstatieren. Diese Zahl steht in Übereinklang mit den Ergebnissen aus der BZgA-Studie, dass gerade jüngere Frauen seltener als früher die Pille nehmen. Fazit für die Praxis: Die Angst vor Thrombose beschäftigt Frauen. Bei der Beratung sollte aktiv das Thrombose-Risiko angesprochen und primär eine Pille der 2. Generation verordnet werden, mit entsprechender Begründung. Bekannt ist, dass die Mehrzahl der Frauen bei der Anfangspille bleibt [2]. So besteht die Chance, dass der Anteil der Levonorgestrel-haltigen Pillen weiter zu- und die Zahl der Thrombosen und Lungenembolien weiter abnimmt.

Nebenwirkung 2: Depression (?)

„Bisher wurde die hormonelle Kontrazeption in diesem Lebensalter (_ 20 J.) als nebenwirkungsarm gesehen“, heißt es in einem aktuell im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichen ausführlichen Artikel [4]. Unter der Überschrift „Fakt oder Fake?“ wird darin auf die möglicherweise erhöhte Prävalenz von Depression und Suizidversuchen unter hormoneller Kontrazeption eingegangen. Grundlage sind Erhebungen aus Dänemark: Im Jahre 2016 wurde von einer Autorengruppe über den Zusammenhang zwischen hormoneller Kontrazeption und Depression berichtet. Im April 2018 berichteten dieselben Autoren über einen Zusammenhang zwischen Pilleneinnahme und Suizidalität, vor allem beobachtet in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen. Diese Aussagen fußen auf großen Kohortenstudien. Im oben zitierten Artikel heißt es einschränkend: „Eine Assoziation (…) liefert jedoch nur einen möglichen Hinweis, keinen eindeutigen kausalen Beweis eines kausalen Zusammenhangs.“ Immerhin haben die Studienergebnisse dazu geführt, dass ein neuer Warnhinweis in die Fach- und Gebrauchsinformationen eingefügt werden musste.

Unabhängig von der kritischen Diskussion über die Aussagekraft der Studien in den Fachkreisen fand das Thema „Pille und Suizidgefahr“ hohe Aufmerksamkeit in den Medien. Das dürfte zusammen mit den neuen Warnhinweisen seine Wirkung getan und zusätzlich beigetragen haben zum beachtlichen Rückgang der Pillen-Nutzung gerade bei den jüngeren Frauen. Fazit für die Praxis: Gerade jüngere Frauen sind häufig verunsichert über die möglichen Auswirkungen der Pille auf Seele und Sex. Umso wichtiger ist es, dass Frauenärzt*innen diese Sorgen ernst nehmen und als qualifizierte Ansprechpartner*innen bereit stehen.

Kontrazeptions-Beratung: Die seelische Dimension

Frauenärzt*innen sind ausgebildet mit Blick auf den Pearl-Index. Die kontrazeptive Sicherheit der Pille ist fast unschlagbar, sicher ein großer Vorteil gerade für Jugendliche. Dennoch wissen wir als endokrinologisch- versierte Fachleute auch: Die hormonelle Kontrazeption stellt tatsächlich einen ungeheuren Eingriff in den weiblichen Körper dar. Der natürliche Zyklus wird oft über Jahre unterdrückt um den Eisprung zu verhindern. Inwieweit die Beeinflussung dieses subtilen Regelsystems Einfluss hat auf andere physiologische Abläufe in Körper und Gehirn, ist noch längst nicht vollständig geklärt. Die für die Frau selbst spürbare Wirkung – kein Mittelschmerz, Blutung terminiert + kurz + schmerzlos – kann von der einen positiv erlebt werden, der anderen aber auch das Gefühl vermitteln nicht „sie selbst“ zu sein, fremdgesteuert durch „die Hormone“. So diffus schildern es manchmal Frauen, die sich unwohl fühlen mit der Pille und dennoch auf sie angewiesen sind. Die neuen Studien aus Dänemark bringen das Dilemma auf den Punkt.

Dass die hormonelle Kontrazeption neben der gewollten Wirkung (sicherer Schutz vor Schwangerschaft) auch unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben kann, gerade im seelischen Bereich, stand bislang weniger im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses [5]. Hinweise darauf und Forschung darüber sind rar, wie auch der Blick in die im August 2019 publizierte AWMF-Leitlinie zur hormonellen Kontrazeption [6] vor Augen führt. Auffällig ist zunächst rein strukturell eine deutliche Diskrepanz im inhaltlichen Umfang der möglichen Risiken und Nebenwirkungen: Während die somatischen Probleme auf ca. 150 Seiten abgehandelt sind, sind nur insgesamt vier Seiten dem Thema „Depression“ gewidmet, jeweils weitere drei Seiten den Themen „Prämenstruelles Syndrom“ und „Libido“. Inhaltlich sind die Aussagen zum Zusammenhang von hormoneller Kontrazeption und Depression begrenzt mit der Erläuterung: „Bislang ist die Datenlage hinsichtlich eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Einnahme hormoneller Kontrazeptiva und dem Auftreten depressiver Verstimmungen jedoch unklar“. Entsprechend begrenzt (Evidenzgrad 2-) und ohne Erwähnung des Worts „Depression“ fällt das abschließende Statement aus: „Die Einnahme hormoneller Kontrazeptiva kann zu Stimmungsschwankungen führen“, gefolgt von der (nur) konsensbasierten Empfehlung: „Frauen, die hormonelle Kontrazeptiva einnehmen, sollten über das mögliche Auftreten von Stimmungsschwankungen aufgeklärt werden“. Ein im November 2019 im DÄB veröffentlichter Artikel zum Thema „Kontrazeption bei Patientinnen mit Risikokonstellation“ [7] bestätigt die vorherrschend geringe Aufmerksamkeit für die Auswirkung der Pille auf die seelische Dimension: Depression kommt als Risiko nicht vor! Aufgelistet sind Adipositas, Thromboemblie, Diabetesmellitus, Rauchen, Hypertonus, Epilepsie und Migräne. Und was weiter bemerkenswert ist: Obwohl gleich zu Anfang die neue BZgA-Studie mit der Häufigkeit der angewendeten Verhütungsmittel zitiert wird und die nahezu identisch hohe Angabe „orale Kontrazeptiva“ (47 %) und „Kondom“ (46 %) ins Auge springt, wird im weiteren Text nicht mit einem Satz auf die Kondome eingegangen. Wäre es nicht überlegenswert, den Trendwechsel aufzugreifen? Und sich besonders bei „Risikokonstellationen“, ob somatisch, psychisch oder psychosomatisch, Gedanken zu machen über nicht-hormonelle Verhütung, zusammen mit den Frauen?

Pille: Bedenken aufgreifen, Wissen vermitteln

Das Thema Verhütung ist der häufigste Anlass für 20-Jährige, eine frauenärztliche Praxis aufzusuchen. „Ich will die Pille“ wird jetzt nicht selten ergänzt mit dem Zusatz „aber die soll ja nicht so gut sein?“. Das abzuschmettern mit Blick auf die begrenzte Zuverlässigkeit der dänischen Studien führt nicht weiter; es sollte eher genutzt werden für den Gesprächseinstieg.

Im Vergleich zu früheren Zeiten, in der die Pille nicht selten wegen Hautproblemen, zur Regulierung des Zyklus und fast im Sinne eines Statussymbols auch schon präventiv von jungen Mädchen verlangt wurde, die noch keinen Sex hatten [8], sehen Mädchen und Frauen die Pille jetzt zunehmend mit großer Skepsis. Die Pille wird nicht mehr als „Befreiung“ erlebt wie in den 70er Jahren, als sie eingeführt wurde. Aus Gesprächen ist zu entnehmen, dass viele es sehr bewusst ablehnen, durch tägliche Pilleneinnahme die Last der Verhütung allein zu tragen. Sie wollen geschützt sein ohne sich selbst zu schaden.

Trotz der subjektiv angenommenen 100 %igen Informiertheit der jungen Frauen [1] kann es sein, dass manch eine die Risiken der Pille überschätzt und auf den 100 %igen Schutz vor Schwangerschaft verzichtet, mit der Gefahr einer ungewollten Schwangerschaft oder zumindest großen Ängsten davor, wenn die Menstruation sich verspätet. Konkret bedeutet das für das Erstgespräch: Zusätzlich zu den Fragen nach eigenen Vorerkrankungen, nach Nikotin und nach thromboembolischen Ereignissen in der Familie ist die Erhebung der psychischen Vorgeschichte wichtig. Gibt es Hinweise auf depressive Verstimmungen, gerade perimenstruell? Sind in der Familie Depressionen bekannt? Welche Gedanken und eventuellen Befürchtungen verbindet die Frau mit der Pillen-Einnahme? Wie wird Verhütung in der Partnerschaft diskutiert? Übernimmt der Partner zumindest anteilig die Kosten?

Auch in Folgegesprächen sollten immer wieder seelische Veränderungen aktiv angesprochen werden, um etwaige Zusammenhänge klären zu können. Es ist wichtig zu vermitteln, dass Stimmungsschwankungen multifaktoriell bedingt sind und darzustellen, welche Symptome tatsächlich für die Entwicklung einer depressiven Symptomatik sprechen. Die Ablehnung der Pille aus Sorge vor einer Depression oder das vielleicht vorschnelle Absetzen kann nur vermieden werden, wenn die Frau und ihre Beschwerden ernst genommen werden.

Kontrazeption: Es geht auch ohne Pille – aber wie?

Mädchen und Frauen wenden sich, wie die BZgA-Studie zeigt, vorrangig an Frauenärzt*innen bei Fragen der Verhütung. Männer und Jungen sind mehr auf sich gestellt, sie bekommen und erwarten keine ärztliche Beratung; insgesamt haben viele ein Informationsdefizit. Damit liegt die Last der „richtigen“ Kontrazeptions- Wahl anscheinend häufig bei den Frauen. Den Daten zufolge entscheiden sich heutzutage zunehmend viele Paare für Kondome als Verhütungsmethode (_ Abb. 1).

Aber sind Kondome je Thema in der gynäkologischen Praxis? Wovon die kontrazeptive Sicherheit der Kondomnutzung abhängt, dass Kondome in der Größe richtig „passen“ müssen und es sogar ein „Kondometer“ gibt (erhältlich bei der BZgA), dass man Latex-Kondome nur mit wasserlöslichen und fettfreien Gleitmitteln verwenden darf, dass es auch Kondome gibt für Menschen mit Gummi-Allergie – ich bin nicht sicher, ob alle Frauenärzt*innen das und andere Feinheiten wissen. Sollten sie aber. Oder sie sollten zumindest den Frauen Tipps geben, wo sie und ihre Partner sich informieren können. Insgesamt fehlt eine Leitlinie „Nichthormonelle Kontrazeption“, die natürlich auch die anderen Methoden (z. B. Natürliche Familienplanung) einschließen müsste, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Auch darüber müssten Frauenärzt*innen Bescheid wissen. Verlässliche Informationen gibt es online in den Beratungsportalen der BZgA [9] und der ProFamilia [10]. Entsprechende Info-Broschüren eigenen sich gut zur Auslage im Wartezimmer [11].

Je offener wir als Fachleute diese Fragen und Alternativen ansprechen, umso mehr erleichtern wir es den Mädchen und Frauen, die Verhütung zu thematisieren und ihre eigenen Wünsche und Bedenken auch gegenüber dem Partner einzubringen. Welche genau das sind, inwieweit bei den Entscheidungen gegen die Pille neben der Angst vor Nebenwirkungen auch emanzipative Aspekte eine Rolle spielen, wären interessante Forschungsfragen.

Und nicht zuletzt: Es gibt bei aller Aufgeklärtheit Pannen. Die Pille wird vergessen, Kondome können platzen oder im lustvollen Überschwang doch nicht angewendet werden. Deshalb gehört zu jeder Verhütungsberatung der Hinweis auf die Pille danach, die zum Glück auch in Deutschland seit 2015 rezeptfrei zu erhalten ist.

Zusammenfassung

Die kontrazeptive Landschaft hat sich in den letzten Jahren verändert: Weniger Pille, mehr Kondome. Der Pille werden mehr Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten zugeschrieben; das große Plus der Sicherheit verliert anscheinend an Wichtigkeit. Neben der kompetenten Information über die Aspekte der Sicherheit von Verhütung und über die tatsächlichen Risiken und Nebenwirkungen der hormonellen Kontrazeption müssen Fachleute über eine hohes kommunikatives know-how verfügen, um individuell mit jeder/jedem Ratsuchenden die passende Methode zu finden. Zur Grundlage bedarf es neben vertiefender Forschung zu den seelischen Auswirkungen der hormonellen Kontrazeption auch einer deutschen Leitlinie „Nichthormonelle Kontrazeption“.

Schlüsselwörter: Kontrazeption, seelische Nebenwirkungen der hormonellen Kontrazeption, Kontrazeptionsberatung , Nichthormonelle Kontrazeption, Kondom

Korrespondenzadresse:
Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin/ Psychotherapie
Vizepräsidentin der DGPFG
Hindenburgstr. 26
37154 Northeim
www.dr-claudia-schumann.de

Slide Die Pille im Negativ-Trend – Konsequenzen für die Verhütungsberatung in der Praxis Gyne 01/2020

Gyne 07/2019 – Psyche und unerfüllter Kinderwunsch – Einige relevante Aspekte

Gyne 07/2019

Psyche und unerfüllter Kinderwunsch – Einige relevante Aspekte

Autorin:

  A. J. Weblus   

          

Einführung

Im Zeitalter gut etablierter reproduktionsmedizinischer Behandlungsoptionen ist dem Stellenwert der Psyche bei unerfülltem  Kinderwunsch weiterhin eine bedeutende Rolle beizumessen. Der Wunsch nach Familienbildung stellt für die meisten Menschen ein zentrales Lebensthema dar. So entsteht für die Betroffenen nicht selten eine krisenhafte Situation, sollte sich eine erwünschte Schwangerschaft nicht wie erwartet einstellen [1].

7–9 % der Paare im reproduktiven Al-ter sind von Sterilität betroffen [2]. Laut WHO-Definition sprichtman von Sterilität, wenn trotz regelmäßigem, ungeschütztem Geschlechtsverkehr über einen Zeitraum von 12 Monaten keine Schwangerschaft eintritt.  Im deutschen Sprachraum werden die Begriffe Unfruchtbarkeit, Sterilität und Infertilität weitestgehend synonym verwendet, obwohl es sich präziserweise in der überwiegenden Zahl der Fälle eigentlich um Subfertilität handelt.

Unfruchtbarkeit wird häufig schuldhaft und mit Scham besetzt erlebt und kann zu Selbstwertproblemen und Verminderung der Lebensqualität führen [3, 4]. Von vielen Betroffenen wird das Thema auch im nahen Umfeld  tabuisiert, es wird vermieden, mit Freunden und Familie über die Schwierigkeiten zu sprechen [5]. Dies kann zu einem Gefühl der Isolation beitragen.

In der heutigen Zeit, in der das Gefühl entstehen kann, dass (fast) alles möglich und planbar ist, haben viele Menschen falsche Vorstellungen bezüglich der Grenzender Fruchtbarkeit, vor allem was das weibliche, nach neueren Erkenntnissen, aber  auch was das männliche Alter angeht [6]. Auch die Medien tragen hierzu bei. Nicht selten wird suggeriert, dass die biologische Uhr mittlerweile weitge- hend ausgeschaltet werden kann [7].

Die  Beratung, Betreuung und Behandlung von Paaren mit Störungen der Fertilität stellt für niedergelassene Gynäkologinnen, für Reproduktionsmedizinerinnen und für Beraterinnen eine Herausforderung  dar. Die  medizinisch-technischen  Möglichkeiten im In- und Ausland entwickeln sich rasant. Ethische, moralische und auch juristische Fragen sind komplex und stellen sich stän- dig neu.

Das  mit der Thematik verbundene seelische Leid und der psychische Druck, unter dem viele Betroffene stehen,  können groß sein.  Ungewollte Kinderlosigkeit wird von den meisten  Paaren als Kränkung  mit Ausbildung von Insuffizienzgefühlen, Hoffnungslosigkeit und Kontrollverlust  [8] erlebt. Die Einbeziehung von psychosomatischen und psychosozialen Gesichtspunkten in Diagnostik und Therapie ist daher von großer Bedeutung [9].

Psychische Ursachen der Infertilität

Hinsichtlich psychogen bedingter Fruchtbarkeitsstörungen existieren einige Mythen, die sich hartnäckig halten und Betroffene eher zusätzlich belasten und unter Druck setzen können als hilfreich zu sein. Ratschläge wie „jetzt entspann dich doch mal, du hast viel zu viel Stress, dann ist es ja klar, dass das mit dem schwanger werden nicht klappen kann“ hören fast alle Menschen, die eine Phase ungewollter Kinderlosigkeit erleben.

Die Theorien zu bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen, vor allem der betroffenen Frauen, stammen vielfach aus den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Damals wurden zum Teil stigmatisierende Vermutungen angestellt, welche Arten der Unreife, der Ambivalenz gegenüber der Frauen- oder Mutterrolle sowie sonstiger Unzulänglichkeiten bzw. Arten von psychischen Besonderheiten dazu führten, dass Frauen nicht in der Lage waren ein Kind zu empfangen und/oder auszutragen [10, 11]. Idiopathische Sterilität wurde in diesem Zusammenhang fälschlicherweise nicht selten direkt mit psychogener Sterilität gleichgesetzt.

Mittlerweile wird von einer weitgehenden Entpathologisierung der Paare auf psychischer Ebene ausgegangen [9]. Besonders die Theorien bezüglich  bestimmter  Persönlichkeitsprofile bei unerfülltem Kinderwunsch ohne ersichtliche körperliche Ursache konnten im Laufe der Jahre nicht bestätigt werden. Zwar lassen sich bei den betroffenen Paaren, vor allem bei den Frauen, teilweise eine durchschnittlich erhöhte Depressivität und Ängstlichkeit sowie etwas vermehrte körperliche Beschwerden im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung nachweisen. Ein kausaler Zusammenhang ist aber nicht anzunehmen, sondern dies ist vielmehr mit der Belastung durch die Fertilitätsproblematik zu begründen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Anteil an Menschen mit psychopathologischen Auffälligkeiten unter denjenigen mit unerfülltem Kinderwunsch mit  15–20 % ähnlich hoch ist wie in der Allgemeinbevölkerung [12].

Psychische  Störungen  als  Ursache von Infertilität konnten vor allem im Sinne  einer  verhaltensbedingten, psychosozial  mitbedingten Fertilitätsstörung bestätigt werden. Darunter wird verstanden, dass ein Paar fertilitätsbeeinträchtigendes Verhalten, trotz deutlicher Aufklärung über die Auswirkungen, praktiziert. Hierbei kann es sich z. B. um Hochleistungssport, gestörtes  Essverhalten, Über- oder Untergewicht, Nikotinabusus, sexuelle Funktionsstörungen ohne organische Ursache oder das Vermeiden von Geschlechtsverkehr in der fertilen Zyklusphase handeln. Die Häufigkeit solcher Faktoren als Hauptursache für die Unfruchtbarkeit eines Paares liegt wahrscheinlich bei ca. 5–10 % [13, 14].

Auswirkungen der Infertilität und der Kinderwunschbehandlung auf die Psyche

Mehr als die psychischen Ursachen von Infertilität stehen mittlerweile die Auswirkungen der Fertilitätsstörung und auch der reproduktionsmedizinischen Behandlung auf die Psyche der betroffenen Paare im Fokus des Interesses. Menschen, die vergeblich versuchen, schwanger zu werden, leiden vermehrt unter Ängstlichkeit, depressiver Symptomatik, Stress und einem Gefühl der Isolation und des Kontrollverlustes [15].

Für einen Großteil der Paare in reproduktionsmedizinischer Behandlung bedeutet dies eine deutliche emotionale  Belastung  [16]. Das Hoffen, Bangen und die möglichen Enttäuschungen können eine gefühlsmäßige Achterbahnfahrt verursachen. Besonders die „passive“, von Warten, Hoffen und Bangen geprägte, Zeitspanne zwischen Embryotransfer und Schwangerschaftstest wird von vielen  als sehr herausfordernd und belastend empfunden  [17]. Nichterfolgreiche Behandlungen können zu verstärkter Depressivität und Ängstlichkeit führen.

Anteilnahme und Unterstützung durch den Partner kann hingegen das Stressniveau der betroffenen Frauen senken [18]. Besonders deutlich wird die Relevanz der Auswirkungen dieser psychischen Belastungen, wenn man bedenkt, dass die  häufigste Ursache für  Therapieabbrüche, nach dem ersten Zyklus einer In-vitro-Fertilisation-(IVF-)Behandlung, psychische Gründe sind [19]. So können die psychischen Auswirkungen der Behandlung dazu führen, dass die kumulative Chance auf eine Schwangerschaft von einem Paar nicht adäquat genutzt wird [20].

Durch Kommunikation und Offenheit, auch in Bezug auf die seelischen Belange der Betroffenen, kann die Situation in vielen Fällen schon deutlich entlastet werden. Besonders die niedergelassenen GynäkologInnen können hier als wichtige Vertrauenspersonen hilfreich sein.

Auswirkung von Stress auf das Behandlungsergebnis

Immer wieder stellen Paare, die sich in reproduktionsmedizinischer Behandlung befinden, sich und den behandelnden Ärzten die Frage, ob sich der während der Therapie empfundener Stress negativ auf die Chance für das Eintreten einer Schwangerschaft auswirken kann [21].  Bei  nichterfolgreichen  Therapieversuchen geben sich viele Paare selbst die Schuld, indem sie die eigene  Anspannung während der Behandlung als Ursache für das Ausbleiben der erwünschten Schwangerschaft vermuten.

Die Studienlage bezüglich Auswirkungen von Stress und Angst auf das Behandlungsergebnis nach IVF sind zwar uneinheitlich, aber es ließ sich bisher nicht eindeutig zeigen, dass Stress die Schwangerschaftsrate nach antiretroviraler Therapie (ART) senkt [22].

Nach aktuellen Studien und Meta-analysen lässt sich kein direkter Zusammenhang zwischen psychischem Stress und Erfolg einer Sterilitätsbehandlung annehmen [20, 22].

Es ist wichtig, dies in die Aufklärung bezüglich der reproduktionsmedizinischen Behandlung zu implementieren, um hier für Entlastung zu sorgen [20, 23].

Männer und Kinderwunsch

Die existierenden Untersuchungen zu psychischen Auswirkungen von Sterilität und  Sterilitätsbehandlung fokussieren sich zum überwiegenden Teil entweder auf die Frauen oder aber auf die Paare [24, 25].

Lange ist man davon ausgegangen, dass für Männer die psychische Belastung auf Grund des unerfüllten Kinderwunsches deutlich weniger bedeutend ist als für die Frauen [26]. Dem widerspricht, dass der Wunsch nach Elternschaft aber bei Männern ähnlich stark ausgeprägt ist wie bei Frauen [27].

Mittlerweile weisen einige Untersuchungen darauf hin, dass die emotionale Belastung bei Männern und Frauen vermutlich ähnlich stark ausgeprägt ist, Frauen aber über Themen dieser Art möglicherweise anders kommunizieren. Über Emotionen zu sprechen ist häufig bei Frauen in größerem Maße sozial akzeptiert als bei Männern [28].

Auch wenn Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch in vielen Studien stärkere Ängste, vermehrt Depressionen und ausgeprägtere Einschränkungen der Lebensqualität zeigen als die Männer, sind diese doch häufig auch in hohem Maße durch Infertilität psychisch beeinträchtigt [29]. Auch bei Männern kann Sterilität zu einer Lebenskrise führen.

Vater zu werden ist für viele Männer ein zentrales Lebensziel [28]. Männer fühlen sich bei Fertilitätsproblemen im Rahmen von Diagnostik und Therapie oft „außen vor“ und isoliert. Die Kommunikation findet in der reproduktionsmedizinischen Sprechstunde häufig vorrangig zwischen Behandlern und der Frau statt. Untersuchungen und auch die Behandlung selbst betreffen zu einem weitaus größeren Anteil ebenfalls die Frau [30]. Männer können die Infertilität, besonders die männlich bedingte Fertilitätseinschränkung, als eine Art Stigma erleben und leiden teilweise unter einer Verminderung des Männlichkeitsgefühls. Gefühle von Schuld, Trauer, Scham und Kontrollverlust können die Lebensqualität der Betroffenen deutlich beeinflussen  [28, 31, 30].  Das  Einbeziehen der Männer in die Kommunikation im Rahmen von Diagnostik und Therapie bei unerfülltem Kinderwunsch ist ein wichtiger Aspekt der zur Zufriedenheit, zur Reduktion des Isolationsgefühls und auch zur Compliance des Paares beitragen  kann [30, 32].

Eine psychotherapeutische Unterstützung oder die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe scheint für viele Männer eine größere Hürde darzustellen als für Frauen [19, 27].

Paarbeziehung

Es findet sich, entgegen früherer gegenteiliger Annahmen, kein spezifisches  Paarbeziehungsmuster  bei Paaren mit idiopathischer Infertilität [33]. Auch sind die Paare nicht unzufriedener mit der Partnerschaft als andere. Ganz im Gegenteil stellen sich Frauen mit längerer Dauer des Kinderwunsches eher zunehmend zufriedener mit der Partnerschaft dar. Dies kann allerdings, zumindest zum Teil, auch auf eine Idealisierung oder auf eine Antwort im Sinne sozialer  Erwünschtheit  zurückzuführen sein [12].

In einer großen aktuellen dänischen Langzeitstudie zeigt sich auch Jahre nach der Fertilitätsbehandlung keine höhere Rate an Scheidungen oder Trennungen bei Paaren nach ART [34]. Obwohl Infertilität ein negatives Lebensereignis für Paare darstellt, kann Nähe  und Beziehungszufriedenheit verstärkt werden [28].

Zu den Effekten einer erfolglosen Sterilitätsbehandlung auf die Qualität der Paarbeziehung sind die Studienergebnisse kontrovers. Einige Autoren fanden eine deutliche Verbesserung der Partnerschaft durch einen Zuwachs an gemeinschaftlicher Aktivität, Verständnis und Nähe. Andere Studien fanden keine oder eine leicht negative Auswirkung auf die Partnerschaft.  Nach erfolgreicher Sterilitätsbehandlung zeigen einzelne Berichte zwar eine gesteigerte Zufriedenheit mit der Paarbeziehung gegenüber Paaren mit spontan entstandener Schwangerschaft, im überwiegenden Teil der Arbeiten werden jedoch keine Unterschiede bezüglich der Zufriedenheit und Trennungsraten zwischen beiden Gruppen gefunden [9]. Eine besondere psychosoziale Risikosituation auch in Bezug auf die Paarbeziehung stellt die Mehrlingselternschaft dar [35].

Auch diese Erkenntnisse können und sollten in die Beratung und Aufklärung ungewollt kinderloser Paare mit einfließen und können teilweise zur Entlastung beitragen.

Beratung

Im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung durch den niedergelassenen Gynäkologen oder Reproduktionsmediziner kann bereits ein Großteil der psychischen Belastung ausreichend aufgefangen werden und ein großes Maß an Unterstützung psychischer Art erfolgen.

Darüber hinaus sollte zu jedem Zeitpunkt der Diagnostik und Behandlung bei unerfülltem Kinderwunsch, möglichst niedrigschwellig, eine psychosoziale Beratung durch einen qualifizierten ärztlichen oder nichtärztlichen Berater angeboten werden. Besonders wichtig ist eine unabhängige Beratung bei  lange bestehendem Kinderwunsch, nach erfolglosen Therapieversuchen oder vor Behandlung mit Fremdgameten [17, 36]. Bei persistierender psychischer Belastung kann auch eine psychotherapeutische Mitbehandlung sinnvoll werden.

Verlauf

Es ist sinnvoll, dass bereits bei Beginn der Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch Möglichkeiten von Alternativen bezüglich des Lebensentwurfs, bei dauerhaft ausbleibender Elternschaft, aktiv angesprochen werden. Besonders wenn man bedenkt, dass ca. 40–50 % der Paare die Behandlung ohne die Geburt eines Kindes wieder beenden [9]. Auch sollten die betroffenen Paare über die Chance einer Spontankonzeption trotz Fertilitätseinschränkung aufgeklärt werden, z. B. auch nach erfolglos gebliebener IVF-Behandlung bei ca. 17 % liegt [37].

Für die Betreuung der Schwangeren und Eltern nach reproduktionsmedizinischer Behandlung ist wichtig zu bedenken, dass das Thema der Infertilität beispielsweise in Form von Insuffizienz- und Unsicherheitsgefühlen auch nach erfolgreicher Kinderwunschbehandlung, bei manchen Paaren, weiter wirken kann. So ist es möglich, dass die Ansprüche als Eltern perfekt zu sein größer sind als nach spontaner Konzeption [38].

Das Schwangerschafts- und Geburtserleben scheint sich nicht wesentlich von dem nach einer Spontankonzeption zu unterscheiden [9]. Insgesamt unterscheiden sich Eltern, deren Kinder durch Hilfe einer reproduktionsmedizinischen Behandlung entstanden sind, in psychischer Hinsicht nicht sehr von anderen Eltern. Dies trifft auch auf die Eltern-Kind- Beziehung zu [9].

Besonders bei dauerhafter Kinderlosigkeit besteht bei manchen Betroffenen eine erhöhte psychische Vulnerabilität mit erhöhtem Risiko für Depression, phobische Störungen und Somatisierungsstörung [39].

Die Studienergebnisse bezüglich der psychischen Auswirkungen eines unerfüllten Kinderwunsches sind aber in Bezug auf eine Langzeitprognose, sowohl nach einer erfolgreichen als auch nach einer erfolglosen Behandlung, insgesamt beruhigend [9]. Die Lebensqualität scheint sowohl bei Paaren, die mit Hilfe von ART Eltern wurden, als auch bei jenen, die nach einer solchen Behandlung dauerhaft kinderlos  blieben, gut zu sein [33]. Die Erfahrung der Sterilität bleibt zwar eine traurige Begebenheit und das Thema wird in vielen Fällen auch immer wieder Bedauern hervorrufen. Die Krise kann aber auf längere Sicht von den meisten überwunden werden [9].

Schlussfolgerungen/ Zusammenfassung

Paare mit unerfülltem Kinderwunsch und in reproduktionsmedizinischer Behandlung sollten darüber aufgeklärt werden, dass der empfundene Stress und andere emotionale Zustände generell nicht zu Sterilität führen und auch keinen direkten negativen Einfluss auf das Ergebnis einer Behandlung haben. Dies ist wichtig um Schuldzuweisungen und den psychischen Druck in dieser Situation nicht noch zu erhöhen.

Psychosoziale  Beratungsangebote sollten aktiv empfohlen und bereitgestellt werden, um psychische Belastung und auch durch diese mitbedingte Therapieabbrüche zu reduzieren. Männer sollten, im Rahmen von Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen, vermehrt in die Kommunikation einbezogen werden.

Die psychische Prognose ist sowohl nach erfolgreicher als auch nach erfolgloser Behandlung für alle Beteiligten gut. Das Thema der Unfruchtbarkeit kann aber in beiden Fällen im Leben weiter eine bedeutende Rolle spielen.

Schlüsselwörter: Sterilität, psychische Belastung, Kin- derwunsch, Reproduktionsmedizin, Stress

Korrespondenzadresse:

Dr. A. J. Weblus
Fertility Center Berlin
Spandauer Damm 130
14050 Berlin

Slide Psyche und unerfüllter Kinderwunsch - Einige relevante Aspekte Gyne 07/2019

Gyne 05/2019 – Diagnostik und Interventionen in der Peri- und Postmenopause

Gyne 05/2019

Diagnostik und Interventionen in der Peri- und Postmenopause

Autorin:

  M. J. Beckermann

   

Einleitung

Die aktualisierte S3-Leitlinie (https:// www.awmf.org/leitlinien/angemeldete- leitlinien.html) stellt eine umfassende Hilfestellung bei der Beratung von Frauen in den Wechseljahren dar. Sie lehnt sich an die NICE (The National Institute for Health and Care)-Guideline von November 2015 (https://www.nice.org.uk/guidance/ ng23) an und richtet sich an Ärzt*innen, die Frauen in den Wechseljahren betreuen. Hinweise zur Diagnostik sind ebenso relevant wie der Umgang mit Beschwerden. Die Effektivität und (Arzneimittel-)Sicherheit von Interventionen wird umfassend dargelegt, sowohl von nichtpharmakologischen als auch von phytotherapeutischen, hormonellen und nicht-hormonellen Maßnahmen.

Was bringt die neue Leitlinie?

Die S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) von 2009 war eine Reaktion auf die Ergebnisse der Women’s Health Initiative (WHI)-Studie 2002 [1]. Beobachtungsstudien hatten zuvor den Anschein erweckt, dass eine prophylaktische Hormontherapie mit Östrogenen bzw. Östrogenen und Gestagenen eine Reihe von Alterskrankheiten verhindern und die Lebenserwartung steigern könnten. Die WHI-Studie ist eine der größten kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien, die je mit Hormonen durchgeführt wurde. Es ging dabei nicht um Wechseljahresbeschwerden, sondern umdie Frage, ob eine Hormontherapie vor Alterskrankheiten schützen kann. Deswegen wurden auch überwiegend postmenopausale Frauen (Durchschnittsalter 63 Jahre) rekrutiert. Im Jahre 2002 wurde der Studienarm mit der kombinierten Östrogen-Gestagen-Diagnostik und Interventionen in der Peri- und Postmenopause Therapie wegen der hohen Brustkrebsrate abgebrochen. 2005 wurde auch der Studienarm mit Östrogenen wegen der Zunahme von Schlaganfällen in der Hormongruppe abgebrochen. Die Frauenärzt*innen waren durch diese Ergebnisse verunsichert. Vor diesem Hintergrund beschloss die DGGG, eine S3-Leitlinie zu erarbeiten und den Frauenärzt*innen damit ein Regelwerk an die Hand zu geben. Die Hauptaussage der WHIStudie wie auch der S3-Leitlinie von 2009 war, dass Hormone nicht geeignet sind zur Prävention von Alterserkrankungen (außer in speziellen Fällen zur Osteoporosevorbeugung), dass sie aber die wirksamste Behandlung von vasomotorischen Beschwerden in den Wechseljahren darstellen.

Inzwischen ist es zu einem massiven Einbruch der Hormonverordnung gekommen. Laut Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse (TK) im Juli 2018 nahmen im Jahre 2018 nur noch 6,6 % der Frauen zwischen 45 und 65 Jahren Hormone ein. Im Jahre 2000 waren es noch 37 % und im Jahre 2010 9,6 % gewesen. Frauenärzt* innen erleben in den Praxen häufig, dass Frauen Angst vor den Risiken einer Hormontherapie haben.

Die Aktualisierung der S3-Leitlinie von 2016–2019 folgt einer neuen Strategie, indem sie das Blickfeld erweitert. Aufbau und Inhalt der neuen Leitlinie lehnen sich an die NICEGuideline „Menopause“ von November 2015 an. Dort haben die Autor*innen versucht, die Risikobewertung einer Hormontherapie auf Frauen zwischen 50 und 60 Jahren zu fokussieren. Das bedeutet, dass sie nicht nur auf die Zahlen aus der WHI-Studie, in der das Durchschnittsalter der Frauen 63 Jahre betrug, zurückgreifen, sondern dass kleinere Studien mit perimenopausalen Frauen vorrangig berücksichtigt werden. Die Präparate und Applikationsformen, die in den großen amerikanischen Studien nicht verwendet wurden, wie z. B. Östrogenpflaster und Progesteron, werden in der Leitlinie einer Bewertung unterzogen, soweit die Studienlage es zulässt. Außerdem wird zu Fragen der Diagnostik und Beratung Stellung bezogen. Die Effektivität und (Arzneimittel-) Sicherheit nicht-pharmakologischer, phytotherapeutischer und anderer nicht-hormoneller Behandlungen wurden durch aktuelle Recherchen von 2015–2018 auf den neuesten Stand gebracht und dargelegt.

Ausgewählte Statements und Empfehlungen sowie einige Textauszüge aus der S3-Leitlinie

(Statements und Empfehlungen sind kursiv gedruckt, Textauszüge nicht. Kommentare der Autorin stehen in Anführungszeichen „…“)

Diagnostik und therapeutische Interventionen bei peri- und postmenopausalen Frauen

Diagnostik
Die Peri- und Postmenopause bei über 45-jährigen Frauen sollen aufgrund klinischer Parameter diagnostiziert werden. Eine Bestimmung des FSH zur Diagnose der Peri- und Postmenopause soll nur bei Frauen zwischen dem 40. und 45. Lebensjahr mit klimakterischen Symptomen (z. B. Hitzewallungen, Zyklusveränderungen) sowie bei Frauen unter 40 Jahren mit Hinweisen auf vorzeitige Ovarialinsuffizienz erfolgen.

Therapeutische Interventionen
Frauen mit vasomotorischen Beschwerden soll eine HRT angeboten werden, nachdem sie über die kurz- (bis zu fünf Jahren) und langfristigen Nutzen und Risiken informiert wurden. Für nicht-hysterektomierte Frauen kommt eine EPT mit adäquatem Gestagenanteil, für hysterektomierte Frauen eine ET in Betracht.
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRIs), Clonidin und Gabapentin sollen nicht routinemäßig als Mittel erster Wahl gegen vasomotorische Symptome angeboten werden.
Kognitive Verhaltenstherapie (CBT), Isoflavone und Cimicifuga-Präparate können bei vasomotorischen Symptomen angewendet werden.

Vasomotorische Symptome Wirksamkeit und Sicherheit von Interventionen Dargestellt in Tabelle 1.

Sicherheit von Interventionen für Frauen nach Brustkrebs
„Von den Interventionen in Tabelle 1 sollen Östrogene, Tibolon, Phytoöstrogene (Isoflavone, Rotklee, SEquol, Genistein, Rheum rhapontikum) und DHEA bei Frauen mit/ nach Brustkrebs vermieden werden. Die Anwendung von Cimicifuga ist vermutlich nicht mit einem erhöhten Risiko für ein Rezidiv behaftet, aber die Datenlage ist nicht genügend.“

Urogenitale Atrophie
Frauen mit symptomatischer urogenitaler Atrophie soll die Anwendung von Befeuchtungs-, Gleitmitteln alleine oder zusammen mit einer vaginalen ET angeboten werden. Die Therapie kann so lange wie erforderlich angewendet werden.

„Die Leitliniengruppe war sich einig, dass peri- und postmenopausale Frauen aktiv auf mögliche Beschwerden durch Scheidentrockenheit angesprochen werden sollen.“

„Eine aktuelle Studie [2] zeigt, dass einfache Gleitmittel, Spezialgleitmittel und hormonhaltige Vaginalcreme bzw. Vaginaltabletten gleich gut wirken. Frauen sollen entsprechend ihrer Vorliebe behandelt werden.“

Beginn, Überwachung und Absetzen einer HRT
Unter lokaler ET soll keine routinemäßige Vaginalsonographie zur Messung der Endometriumdicke durchgeführt werden (s. S3-Leitlinie Endometriumkarzinom, AWMF-Registernummer 032−034). Frauen sollten vor Beginn der Behandlung darauf hingewiesen werden, dass nach dem Absetzen der HRT vasomotorische Beschwerden wieder auftreten können. Für das Absetzen der HRT können zwei Optionen angeboten werden: sofortiges Absetzen oder allmähliches Ausschleichen. Nach allmählichem Ausschleichen treten die Symptome kurzfristig möglicherweise seltener wieder auf. Langfristig ist das Wiederauftreten von Symptomen unabhängig davon, ob die Hormone langsam oder plötzlich abgesetzt werden.

Urogynäkologie

Belastungsinkontinenz
Eine vaginale ET kann eine Harninkontinenz bei postmenopausalen Frauen verbessern.

Patientinnen sollen vor einer systemischen ET/EPT darüber informiert werden, dass diese zum Auftreten oder zur Verschlechterung einer Harninkontinenz führen kann.

Postmenopausalen Patientinnen mit Harninkontinenz sollen Beckenbodentraining und eine vaginale ET angeboten werden.

„Als Harninkontinenz wurde in der WHI-Studie unfreiwilliger Urinverlust mindestens einmal in zwei Wochen definiert. Systemische Hormontherapie ist sowohl mit der Zunahme einer Harninkontinenz als auch mit der Zunahme einer Beeinträchtigung durch die Harninkontinenz verbunden. Die Beschwerden bilden sich laut WHI-Studie bei etwa einem Drittel der Frauen nach dem Absetzen der Hormontherapie wieder zurück.“

Kardiovaskuläre Erkrankungen

Das kardiovaskuläre Basisrisiko periund postmenopausaler Frauen variiert sehr stark in Abhängigkeit von den Risikofaktoren. Sie sollten optimal kontrolliert sein, damit sie keine Kontraindikation für eine HRT darstellen. Deshalb sollten die vaskulären Risikofaktoren vor Beginn einer HRT abgeklärt und behandelt werden.

Thromboembolien
Frauen sollen darüber informiert werden, dass das Thromboembolierisiko unter oraler ET und EPT erhöht ist und höher ist als bei transdermaler Applikation.

Vor dem Hintergrund dieses beachtlichen Risikos einer oralen HRT sind Beobachtungsstudien zu transdermalen Applikationsformen vielversprechend, aber ohne Beweischarakter.

Zerebrovaskuläre Ereignisse
Frauen sollen darüber informiert werden, dass eine orale EPT das Risiko für ischämische zerebrovaskuläre Ereignisse möglicherweise erhöht, nicht aber eine transdermale ET. Das absolute Risiko für einen Schlaganfall ist bei jüngeren Frauen sehr niedrig.

Für die Praxis stellt sich die Frage, ob dieses hohe Schlaganfallrisiko unter HRT auch für Frauen gilt, die in den ersten zehn Jahren nach Eintritt der Menopause oder in dem entsprechenden Alter von etwa 50–59 Jahren mit einer HRT beginnen. Unter einer oralen EPT muss bei 1.000 Frauen möglicherweise mit etwa fünf zusätzlichen Schlaganfällen innerhalb von zehn Jahren gerechnet werden [3] (Thom et al. 2006). Allerdings war dieser Risikoanstieg in der Subgruppe mit Beginn der HRT früh in der Postmenopause nicht signifikant ebenso wie in einer Cochrane Meta-Analyse von 19 rando-misierten Interventionsstudien mit 40.410 Probandinnen [4]. Zu transdermaler HRT liegen leider keine Daten von randomisierten Interventionsstudien zum Schlaganfallrisiko vor (Harmann et al. 2014). Eine Meta- Analyse von Beobachtungsstudien mit nur einer Fall-Kontroll-Studie ergab für eine orale HRT ein um das 1,24-fach höheres Schlaganfallrisiko verglichen mit dem Risiko unter transdermaler HRT [5]. Durch Anwendung einer transdermalen HRT könnte also eine Erhöhung des Schlaganfallrisikos vermeidbar sein, allerdings nur bis zu einer Dosis von 50 μg. Keine ausreichenden Daten liegen allerdings für den Fall nach ischämischem Schlaganfall oder TIA vor, sodass diese Konstellation weiterhin als Kontraindikation gelten muss.

Osteoporose

Eine HRT führt zu einer signifikanten Erniedrigung für das Risiko für Osteoporose- assoziierter Frakturen.

Der frakturreduzierende Einfluss einer HRT war unabhängig von der Einnahmedauer (d. h. bereits nach einer kurzenl 1-jährigen Einnahme nachweisbar) und des Alters bei Therapiebeginn. Zusätzlich scheint der frakturreduzierende Effekt nach Beendigung einer HRT in geringerem Maße weiter zu bestehen.

Demenz, Depression, Stimmungsschwankungen

Frauen in der Peri- und Postmenopause sollen darüber beraten werden, dass es unklar ist, ob eine HRT vor dem 65. Lebensjahr das Demenzrisiko beeinflusst.

„Dieses Statement ist wichtig, weil das Demenzrisiko bei Frauen über 65 Jahren, die Hormone einnehmen, erhöht ist. Bei Frauen zwischen 50 und 54 Jahren wurden in einer WHI-Unterstudie kognitive Tests durchgeführt. Die Ergebnisse unterschieden sich nicht zwischen Hormon- und Placebogruppe. Das ist beruhigend, sagt aber nicht unbedingt etwas zum Risiko für Demenz aus.“

Die Indikation zur pharmakologischen Behandlung von Depressionen in der Perimenopause soll den allgemeinen Behandlungsleitlinien folgen (es liegen keine direkten Wirksamkeitsstudien in der Perimenopause vor).

Es gibt derzeit keine sicheren Hinweise auf eine unterschiedliche Wirksamkeit von Antidepressiva in Abhängigkeit vom Menopausenstatus.

HRT und Krebsrisiko

HRT und Brustkrebsrisiko
Frauen, die eine HRT erwägen, sollen darüber aufgeklärt werden, dass eine HRT (EPT/ET) zu einer geringen oder keiner Erhöhung des Brustkrebsrisikos führen kann. Die mögliche Risikoerhöhung ist abhängig von der Zusammensetzung der HRT, der Behandlungsdauer und reduziert sich nach Absetzen der HRT.

HRT und Endometriumkarzinomrisiko
Eine alleinige HRT mit Östrogenen ohne Gestagenschutz ist bei nicht hysterektomierten Frauen ein Risikofaktor für das Auftreten eines Endometriumkarzinoms. Der Effekt ist von der Dauer der Anwendung abhängig.

Die Verwendung von Progesteron oder Dydrogesteron „im Vergleich zu stärkeren Gestagenen“ im Rahmen einer kontinuierlich-kombinierten HRT kann das Risiko der Entstehung eines Endometriumkarzinoms erhöhen.

Eine kontinuierlich-kombinierte HRT mit l 5 Jahren Anwendungsdauer kann hinsichtlich des Endometriumkarzinomrisikos als sicher angesehen werden.

Die sequentiell-kombinierte HRT kann das Risiko der Entstehung eines Endometriumkarzinoms erhöhen. Der Effekt ist von der Dauer, Art und Dosis der Gestagenanwendung abhängig.

Die sequentiell-kombinierte HRT mit einer Anwendungsdauer unter fünf Jahren und unter Verwendung eines synthetischen Gestagens kann hinsichtlich des Endometriumkarzinomrisikos als sicher angesehen werden.

HRT und Ovarialkarzinomrisiko
Frauen, die eine HRT erwägen, sollen darüber aufgeklärt werden, dass eine ET bzw. EPT das Ovarialkarzinomrisiko erhöhen können. Die Wirkung kann bereits bei Anwendungszeiten von unter fünf Jahren auftreten und reduziert sich nach Absetzen der Therapie.

HRT und Risiko für kolorektale Karzinome
Frauen sollen darüber aufgeklärt werden, dass eine HRT das Risiko für kolorektale Karzinome senken kann. Daraus ergibt sich keine Indikation für einen präventiven Einsatz der HRT.

Andere Erkrankungen

Erkrankungen der Gallenblase und Gallengänge
Eine HRT erhöht das Risiko für Gallenwegserkrankungen. In Analysen der Cochrane Collaboration erhöhte eine kombinierte HRT und eine ERT bei postmenopausalen Frauen das Risiko von Galleblasenerkrankungen nach 5,6 Jahren Anwendung von 27 pro 1.000 auf 38–60 pro 1.000 Frauen. Die WHI-Studie ergab für beide Studienarme ebenfalls eine erhöhte Rate von Gallenwegserkrankungen. Auch bei transdermaler Therapie gibt es Hinweise auf ein leicht erhöhtes Risiko. Nach Therapie-Ende sinkt das bis dahin erhöhte Risiko von symptomatischen Gallenblasenerkrankungen und Cholezystektomien langsam ab, erreicht aber auch nach 10 Jahren noch nicht das Ausgangsniveau.

Patientinneninformation

Was bedeutet das für die Praxis?

Die Indikation
Die Indikation zur Hormontherapie sind klimakterische Beschwerden. Dabei sind vasomotorische Symptome (Hitzewallungen, Schweißausbrüche) die Schlüsselsymptome. Weidner konnte zeigen, dass es die einzigen Symptome sind, die bei Frauen in der Lebensspanne zwischen 45 und 55 gehäuft auftreten [6]. Schlafstörungen, Müdigkeit und Stimmungsschwankungen können die Folge von vasomotorischen Beschwerden sein, sie können aber auch andere Ursachen (z. B. Depressionen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, Schilddrüsenfunktionsstörung u. a.) haben.

Zur Prävention sind Östrogene nur in besonderen Fällen als Sekundärprophylaxe bei Frauen mit Osteoporose indiziert, wenn andere Medikamente nicht eingesetzt werden können. Besonders wenn es sich um ältere Frauen und um eine lange Behandlungsdauer handelt, müssen die Risiken gut abgewogen werden.

Nach (sexuellen) Beschwerden aufgrund einer trockenen Scheide sollte gezielt gefragt und bei Bedarf eine lokale Therapie mit Gleitmitteln und/oder Östriolpräparaten empfohlen werden.

Bei rezidivierenden Harnwegsinfekten sollte eine lokale Östrioltherapie angeboten werden.

Die Diagnose
Die Diagnose von Peri- und Postmenopause soll klinisch gestellt werden. Laboruntersuchungen sind bei Frauen über 45 Jahren überflüssig.

Behandlungsbeginn unter 60
Wenn klimakterische Beschwerden behandelt werden sollen, ist der Behandlungsbeginn in den allermeisten Fällen unter 60 Jahren. Es gibt Berechnungen aus den WHI-Nachbeobachtungen, die geringere Risiken bei Frauen postulieren, die bei Behandlungsbeginn jünger als 60 Jahre sind [3]. Diese Ergebnisse sind alle nicht signifikant, weil die Untergruppe zu klein war. Aber selbstverständlich haben Frauen mit 55 Jahren durchschnittlich niedrigere kardiovaskuläre Hintergrundrisiken als Frauen mit 70 Jahren. Insofern könnte eine Hormontherapie bei ihnen mit geringeren kardiovaskulären Risiken verbunden sein als bei den älteren Frauen aus den großen RCTs wie WHI und HERS.

Das trifft aber nicht auf das Brustkrebsrisiko zu. Laut WHI-Studie ist das Brustkrebsrisiko höher bei Behandlungsbeginn innerhalb von fünf Jahren nach der Menopause.

Behandlungsende
Bei den meisten Frauen ist eine kurzfristige Hormontherapie von 1–2 Jahren ausreichend. Wenn die Dosis so niedrig gewählt ist, dass Frauen spüren können, ob sie noch Hitzewallungen haben, können sie den Zeitpunkt des Absetzens selbst herausfinden. Spätestens nach 5 Jahren sollte die Therapie beendet werden. Frauen, die befürchten, dass die Beschwerden wieder auftreten, sollten die Therapie langsam ausschleichen.

Transdermale vs. orale Behandlung
Die transdermale Gabe von Östrogenen scheint mit weniger Risiken verbunden zu sein als die orale Gabe. Speziell das Risiko für Thrombose/ Embolie und das Risiko für zerebrale Infarkte scheint niedriger zu sein. Auch das Risiko für Gallenwegserkrankungen ist niedriger unter transdermaler Gabe.

Hingegen sind die positiven Auswirkungen auf Diabetes mellitus, HDL und kolorektale Karzinome unter transdermaler Gabe nicht vorhanden.

Es gibt noch zu wenig prospektive randomisierte Studien, um von einem sicheren Nachweis zu sprechen. Aber da es keine relevanten Nachteile bei der transdermalen Therapie gibt, sollte sie die erste Behandlungsoption sein, speziell bei Frauen mit Risiken. Lediglich Blutungsstörungen in der Perimenopause sind besser mit oraler Therapie kontrollierbar.

Die „Bioidentischen Hormone“

17β-Östradiol
Der Begriff „bioidentische“ Hormone ist nicht geschützt und wird unterschiedlich angewendet. Ein Cochrane Review [7] versteht darunter 17β-Östradiol und prüft die Wirksamkeit. 17β-Östradiol hat unabhängig davon, wie es gewonnen wurde, eine typische Östradiol-Wirkung. Es wurde in Europa bereits seit Beginn der Hormontherapie-Ära angewendet.

Im Unterschied dazu enthalten die equinen konjugierten Östrogene ein Gemisch von Östrogenmetaboliten mit einem hohen Anteil an Östron. Sie stimulieren die Leber möglicherweise stärker als Östradiol zur Synthese von Gerinnungsfaktoren. Aber es gibt keinen sicheren Nachweis dafür, dass die orale Östradiol-Einnahme mit geringeren Risiken verbunden ist als die Einnahme von equinen konjugierten Östrogenen.

Progesteron
Das andere „bioidentische“ Hormon ist Progesteron. Auch hier ist nicht die Art der Gewinnung entscheidend für die Wirkung, sondern die chemische Struktur. Progesteron wird wie die meisten anderen Gestagene auch aus Diosgenin synthetisiert, einem Substrat aus der Yamswurzel.

Wenn Progesteron als Gestagenzusatz bei einer kombinierten Östrogen- Gestagen-Therapie Anwendung finden soll, gibt es zwei Probleme. Zum einen hat Progesteron nur eine schwache Gestagenwirkung, gemessen an dem antiproliferativen Effekt auf das Endometrium. Es ist nicht nachgewiesen, dass Dosierungen von 100 mg oder 200 mg pro Tag vor Endometriumkarzinom schützen. Zum anderen muss die Aufnahme von Progesteron sicher gestellt sein. Es stehen Kapseln mit 100 mg und mit 200 mg Progesteron zur oralen Aufnahme zur Verfügung, aber möglicherweise ist die vaginale Resorptionsfähigkeit zuverlässiger. Progesteronpräparate zur vaginalen Anwendung sind nur zugelassen in der Kinderwunschbehandlung und in der Schwangerschaft. Viele Frauenärzt* innen empfehlenden Frauen, die Kapseln zur oralen Behandlung vaginal anzuwenden. Das ist immerhin die kostengünstigere Variante, denn die Vaginalkapseln mit 200 mg Progesteron sind etwa doppelt so teuer wie die Kapseln mit 200 mg zur oralen Anwendung.

Progesteron wird durch die äußere Haut nur unzuverlässig resorbiert. Die Anwendung von Gel und Creme-Zubereitungen führt nicht zu reproduzierbaren Blutspiegeln. Der Endometriumschutz ist ebenso wenig gewährleistet wie ein Nutzen.

Fazit

Wenn Frauen heute unter Wechseljahresbeschwerden leiden, stehen ihnen eine Reihe von Behandlungsoptionen zur Verfügung, zum Beispiel CBT (cognitiv behovioural therapy), Isoflavone, Cimicifuga und Akupunktur. Die wirksamste Methode gegen vasomotorische Beschwerden ist allerdings eine Therapie mit Östrogenen/Gestagenen. Eine transdermale Östrogentherapie hat weniger Risiken als eine orale. Zum Schutz vor Endometriumkarzinom ist bei Frauen mit Uterus die zusätzliche Gabe eines Gestagens notwendig. Es ist nicht nachgewiesen, dass Progesteron (und Dydrogesteron) genauso sicher vor Endometriumkarzinom schützen wie synthetische Gestagene. Wenn Progesteron trotzdem verordnet wird, soll es mindestens in einer Dosierung von 200 mg 12 Tage im Monat und nicht länger als fünf Jahre gegeben werden.

Zusammenfassung

Die S3-Leitlinie der DGGG hat zu wichtigen Aspekten der Diagnostik und Behandlung von peri- und postmenopausalen Frauen Stellung bezogen. Die Diagnose soll klinisch gestellt werden. Frauen sollen ermutigt werden, ihre Fragen zu denWechseljahren zu stellen, damit sie umfassend beraten werden können. Von den nicht-pharmakologischen Interventionen hilft die CBT (cognitiv behavioural therapy) den Frauen, ihre vasomotorischen Symptome gelassener zu nehmen und sich nicht stressen zu lassen [7]. Cimicifuga, Isoflavone und Akupunktur sind häufig hilfreich gegen die Beschwerden.Am wirksamsten ist eine Hormontherapie mit Östrogenen bzw. Östrogenen plus Gestagenen bei Frauen mit Uterus. Eine niedrig dosierte Therapie mit transdermalen Östrogenen hat geringere Risiken als eine orale Therapie. Der Zusatz von synthetischen Gestagenen schützt vor Endometriumkarzinom. Allerdings ist die AuswahlamMarkt derzeit sehr begrenzt. Es stehen weder NETA (Norethisteronacetat) noch Levornorgestrel zur Verfügung. Als stark wirksame Gestagene sind nur MPA (Medroxprogesteronacetat), Chlormadinonacetat und Dienogest erhältlich, und sie sind teilweise nur für andere Indikationen zugelassen. Ein vor Endometriumkarzinom schützender Effekt von Progesteron in einer Dosierung von 200 mg ist zu vermuten, aber nicht sicher nachgewiesen.

Schlüsselwörter: Menopause, Hitzewallungen, CBT, Östrogen transdermal, Progesteron

Korrespondenzadresse:
Dr. med. Maria J. Beckermann
Frauenärztin – Psychotherapie
Buchenweg 9
50765 Köln
Tel.: +49 (0) 221 9591062
m.j.beckermann@t-online.de

Slide Diagnostik und Interventionen in der Peri- und Postmenopause Gyne 05/2019

Gyne 04/2019 – Resilienz und psychische Gesundheit bei gynäkologischen Erkrankungen

Gyne 04/2019

Resilienz und psychische Gesundheit bei gynäkologischen Erkrankungen

Autoren:

  F. Färber, J. Rodeck, J. Rosendahl

   

Im folgenden Beitrag werden theoretische Überlegungen und empirische Befunde zum Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit im Rahmen gynäkologischer Erkrankungen und (diagnostischer) Eingriffe vorgestellt.

Was ist Resilienz?

Resilienz bezeichnet in der Psychologie die Widerstandskraft eines Individuums angesichts belastender Lebensereignisse [1]. In der populärwissenschaftlichen Literatur hat Resilienz in der letzten Zeit viel Beachtung erhalten, z. B. mit Christina Berndts Bestseller im Bereich der Sachbücher „Resilienz –Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burn-out“ aus dem Jahr 2013. Das Konzept wird in den unterschiedlichsten Kontexten aufgegriffen und als Widerstandsfähigkeit im Umgang mit Belastungen und Herausforderungen des Lebens diskutiert [2]. In der psychologischen Forschung wird untersucht, wie Resilienz angesichts verschiedener Belastungen zu einer positiven Anpassung bzw. Bewältigung ebendieser beiträgt.

Herrman et al. [3] unterteilen die Definitionen psychologischer Resilienz primär danach, ob Resilienz als Persönlichkeitseigenschaft oder als dynamischer Prozess verstanden wird. Diese Unterteilung bildet gleichermaßen die beiden bedeutungsvollsten Forschungslinien der psychologischen Resilienzforschung ab, nämlich die persönlichkeitspsychologische und die entwicklungspsychologische [4].

In der Entwicklungspsychologie wird Resilienz insbesondere an Kindern und Jugendlichen untersucht, die angesichts signifikanter Not oder Resilienz und psychische Gesundheit bei gynäkologischen Erkrankungen Traumata eine positive Entwicklung zeigen [5]. Hier sind etwa die Verlaufsstudien der Forschungsgruppen um Emmy Werner (siehe z. B. [6]) und Ann Masten (z. B. [7]) zu nennen. Gemäß Masten [8] lässt sich Resilienz in diesem Feld durch gute Entwicklungsergebnisse trotz ernster Bedrohung der Anpassung charakterisieren. Diese sind Resultate eines interaktiven Prozesses, zu dem vielfältige Faktoren, wie biologische und psychologische Eigenschaften, und Systeme, wie Familie oder Gemeinde, beitragen [3].

Die Konzeptualisierung von Resilienz als Persönlichkeitsmerkmal hingegen findet sich insbesondere in der Literatur zu Resilienz im Erwachsenenalter [1], entstammt einer psychoanalytischen Forschungstradition und geht auf das Konstrukt der Ego-Resilienz nach Block und Block [9] aus den 50er-Jahren zurück [4]. Ego-Resilienz wird dabei neben Ego-Kontrolle als zentraler Bestandteil der Persönlichkeitsstruktur eines Individuums betrachtet und bezeichnet die Fähigkeit, auf Veränderungen und situative Anforderungen dynamisch im Sinne adaptiver Reserven zu reagieren. In aktuellen Publikationen der persönlichkeitspsychologischen Forschungslinie (z. B. [10] oder [11]) wird inzwischen zur Abgrenzung vom entwicklungspsychologischen Ansatz der Begriff Trait- Resilienz verwendet [12].

Wie kann Resilienz gemessen werden?

Um Resilienz zu erfassen, steht eine Reihe von Fragebögen zur Verfügung. Dabei ist die Resilienzskala (RS) nach Wagnild und Young [13] am weitesten verbreitet [1, 14]. Die Resilienzskala misst die individuelle Ausprägung von Resilienz als positives Persönlichkeitsmerkmal im Sinne einer personalen Ressource, welche individuelle Anpassungsfähigkeit fördert [13]. Sie wurde auf Grundlage qualitativer Forschung mit 24 älteren Frauen entwickelt, die sich erfolgreich mit einem einschneidenden Lebensereignis arrangiert hatten. Basierend auf den Berichten der Frauen wurden die fünf Komponenten Entschlossenheit, Beharrlichkeit, Gelassenheit, Selbstvertrauen und Bei-sich-selbst-Sein identifiziert, die Resilienz in diesen Fällen auszeichneten [4, 13]. Darauf aufbauend wurde ein Fragebogen mit 25 Items und siebenstufiger Antwortskala mit Werten von 1 bis 7 erarbeitet. Wagnild und Young [13] ermittelten im Rahmen einer Faktorenanalyse die beiden zugrundeliegenden Faktoren “Persönliche Kompetenz“ und “Akzeptanz des Selbst und des Lebens“. Dabei werden dem ersten Faktor Items zu Selbstvertrauen, Unabhängigkeit, Beherrschung, Beweglichkeit und Ausdauer zugerechnet, wie z. B. „Wenn ich in einer schwierigen Situation bin, finde ich gewöhnlich einen Weg heraus“ oder „Normalerweise schaffe ich alles irgendwie“. Zum zweiten Faktor zählen Items zu Anpassungsfähigkeit, Toleranz sowie flexibler Sicht auf sich selbst und den eigenen Lebensweg, z. B. „Ich mag mich“ oder „Ich lasse mich nicht so schnell aus der Bahn werfen“ [15]. Die Resilienzskala wurde inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt und in verschiedenen Kurzversionen veröffentlicht, so zum Beispiel eine deutsche Version mit 13 Items [16]. Die Items dieser Skala finden sich zum Beispiel bei Leppert et al. [16] oder Färber & Rosendahl [17].

Welche Rolle spielt Resilienz bei körperlichen Erkrankungen?

Als zentrale, definierende Aspekte von Resilienz, übergreifend für die Konzeptualisierung als Prozess und als Persönlichkeitsmerkmal, nennen Fletcher und Sarkar [18] einerseits einen vorangehenden Zustand der Not (adversity) und andererseits eine folgende positive Anpassung (positive adaptation). Die Erfahrung einer schweren oder anhaltenden körperlichen Erkrankung kann als ein solcher Zustand der Not angesehen werden, mit dem sich im Laufe ihres Lebens viele Menschen konfrontiert sehen [19]. So waren nach Daten des Mikrozensus des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2017 14,2% der deutschen Bevölkerung erkrankt, wobei der Anteil mit steigendem Alter zunahm [20].

Krankheiten können, ebenso wie traumatische Erlebnisse und chronischer Stress, der Entwicklung psychischer Störungen vorausgehen [21]. Das Risiko an einer psychischen Störung zu erkranken ist bei Personen mit chronischer körperlicher Erkrankung um das eineinhalb- bis zweifache erhöht gegenüber einem gesunden Menschen bzw. der Allgemeinbevölkerung [22]. In der Mehrzahl der Fälle erfüllen die psychischen Belastungssymptome bei somatischer Erkrankung nicht die klinischen Kriterien zur Diagnose einer psychischen Störung. Da das Auftreten psychischer Belastungssymptome jedoch Einfluss auf den Krankheitsverlauf, die Compliance der Betroffenen und den Erfolg einer Behandlung nehmen kann [22], ist dasWissen um Faktoren wie Resilienz, die eine erfolgreiche Bewältigung des Zustandes körperlicher Erkrankung fördern, von zentraler Bedeutung.

Welchen Einfluss hat Resilienz auf die psychische Gesundheit?

Zahlreiche BefundezumZusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit im Allgemeinen wurden bereits in einigen metaanalytischen Arbeiten zusammengefasst [23–25]. Zum Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit speziell bei Patienten mit einer körperlichen Erkrankung beziehungsweise einem Gesundheitsproblem liegt eine aktuelle systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse vor [17], in der unter Berücksichtigung von 55 Studien mit insgesamt 15.000 Patienten eine signifikante Korrelation von r = 0,43 (95%-KI: 0,39–0,48) zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit ermittelt wurde. In diese Metaanalyse wurden auch Studien mit gynäkologischen Patientinnen eingeschlossen (_ Infobox).

Wie hängen Resilienz und psychische Gesundheit bei gynäkologischen Erkrankungen zusammen?

Die Ergebnisse dieser Studien, die den Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit bei gynäkologischen Patientinnen untersucht haben, sollen im Folgenden genauer betrachtet werden, zum einen im Rahmen einer detaillierten Beschreibung der Studien und ihrer Befunde, zum anderen mittels einer systematischen, statistischen Zusammenfassung ihrer Ergebnisse.

Insgesamt wurden fünf Studien im Kontext von gynäkologischen Erkrankungen berücksichtigt, die Zusammenhänge zwischen Resilienz, erfasst mittels einer Kurzform der Resilience Scale nach Wagnild und Young [13], und selbsteingeschätzter psychischer Gesundheit berichteten. Die psychische Gesundheit wurde in den unterschiedlichen Studien mit verschiedenen Messinstrumenten erhoben. In der Mehrzahl der Studien wurden Angst und Depressivität mithilfe der jeweils sprachlich adaptierten Form der Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) [28] erfasst.

So wurde in der US-amerikanischen Studie von Harding [29] Angst und Depressivität von 128 Frauen, die sich einer Brustbiopsie in Form einer Stanzbiopsie oder operativen Biopsie unterzogen, vor Erhalt der Resultate untersucht. In dieser korrelativen Studie lag der besondere Fokus auf den Zusammenhängen und möglichen Prädiktoren von psychologischer Belastung (Angst und Depressivität) im Kontext der ungewissen Brustkrebs-Diagnose. Die Studie orientierte sich an der „Uncertainty in illness (UIT) theory“ nach Mishel [30], die Ungewissheit als das Unvermögen, die Bedeutung eines krankheitsbezogenen Ereignisses zu deuten, versteht. Aus der Ungewissheit entstünden dann häufig Ängste oder aber Bewältigungsstrategien, je nachdem wie der Betroffene das Krankheitsereignis subjektiv empfindet und beurteilt. Resilienz (erfasst mit der amerikanischen RS-14; [31]) wurde neben neun weiteren vermuteten relevanten Faktoren untersucht und als Schutzfaktor vor Ungewissheit angenommen.

Kamen et al. [32] erfassten Angst und Depressivität von 201 ausschließlich lesbischen und bisexuellen Frauen in den USA, welche eine duktales Karzinom in situ oder Brustkrebs in einem Stadium zwischen I–IV überlebt hatten, einschließlich wiederkehrender Krebserkrankungen und Metastasen. Die untersuchten Frauen gehörten somit einer sexuellen Minderheit an und es wurde angenommen, dass sie vor, aber auch während der Behandlung Stress wegen Diskriminierung und einer negativen Minderheiten- Identität erfahren hatten [33]. Das Anliegen der Forscher war vor diesem Hintergrund, zu eruieren, ob der sogenannte Minderheiten-Stress ein zusätzlicher belastender und sich auf die psychische Gesundheit der Brustkrebs- Erkrankten auswirkender Faktor sein könnte und inwieweit Resilienz (erfasst mit der amerikanischen RS-14; [31]) einen abschwächenden Effekt auf diesen Stress haben könnte [33].

Die chinesische Studie von Liu et al. [34] schloss 198 Patientinnen mit Ovarialkarzinom ein, bei denen ebenfalls Angst und Depressivität erfasst wurden. Das Ovarialkarzinom ist eine der gynäkologischen Krebsformen mit der höchsten Mortalität in China [35] und es ist äußerst schwierig, schon in frühen Phasen der Erkrankung eine Diagnose zu stellen [36], weshalb sich diagnostizierte Betroffene meist mit einer schon vorangeschrittenen Erkrankung konfrontiert sehen. In der betrachteten Stichprobe wurde bei 72,7%der Betroffenen Krebs im Stadium III oder IV diagnostiziert, wobei bei 92,9% keine Metastasen festgestellt worden waren. In 93,4% der Fälle unterzogen sich die Frauen einer Behandlung in Form von Chemotherapie, operativen Eingriffen oder einem kombinierten Vorgehen. Die Forscher prüften den Effekt von wahrgenommenem Stress und zwei mutmaßlich positiv darauf einwirkende psychologische Variablen – Hoffnung und Resilienz (erfasst mit der chinesischen RS-14; [37]) – auf Symptome von Depressivität und Angst.

Mautner et al. [38] untersuchten 67 Frauen in einem österreichischen Universitätskrankenhaus, bei denen während einer zurückliegenden Schwangerschaft Präeklampsie diagnostiziert worden war, die weltweit als eine der häufigsten Gründe für maternale Mortalität gilt [39]. Die multifaktorielle Prävention ist noch nicht umfassend geklärt, weshalb eine klare Vorhersage und Prävention nicht leicht möglich ist [40]. Von den teilnehmenden Patientinnen hatten 16,4%eine milde Form, 71,6%eine schwere und 11,9%eine überlagerte Form der Präeklampsie erfahren. Die Forscher interessierten Unterschiede der Patientinnen in Resilienz hinsichtlich Lebensqualität, Depression und Post-Traumatischer Belastungssymptomen nach einer Präeklampsie. Resilienz wurde in dieser Studie mit der deutschsprachigen RS-13 [16] erfasst.

Die spanische Dissertation von Garcia- Maroto Fernandez [41] beinhaltete zum einen eine korrelative Studie zur psychischen Gesundheit von Brustkrebspatientinnen und gesunden Frauen, zum anderen eine darauf aufbauende Studie zur Wirkung einer psychosozialen Intervention mit dem Ziel, positiv auf Selbstkonzept, emotionale Intelligenz und Angst von Brustkrebspatientinnen einzuwirken. Die Patientinnenstichprobe der korrelativen Vorstudie umfasste 202 Frauen, die wegen eines Mammakarzinoms behandelt wurden (Chemo- und bzw. oder Strahlentherapie, hormonelle Behandlung oder andere). Neben einem Fragebogen zu emotionaler Intelligenz wurde den Patientinnen das State Trait Anxiety Inventory (STAI) [42] und eine spanische Übersetzung der Resilienzskala [43] vorgelegt und unter anderem der Zusammenhang von Resilienz und Angst untersucht. Die Ergebnisse wurden daraufhin mit denen in der gesunden Stichprobe verglichen und Implikationen für die Interventionsstudie abgeleitet.

Die in den einzelnen Studien berichteten Korrelationen zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit weisen eine erhebliche Heterogenität (I2 = 89 %) auf und liegen zwischen r = 0,03 [41] und r = 0,58 [29]. Eine Einzeleffektstärke [41] unterscheidet sich dabei nicht signifikant von Null. Alle anderen Studieneffekte weisen auf einen signifikanten, positiven Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit hin, wobei in zwei Studien ein mittlerer Effekt und in zwei Studien ein großer Effekt [26] berichtet wird (_ Infobox, S. 18). Die mittlere gewichtete Korrelation über alle fünf Studien hinweg beträgt r = 0,40 (95%-KI: 0,20–0,58, p _ 0,001, _ Abb. 1, S. 19). Eine differenzierte Betrachtung in Abhängigkeit des Belastungsmaßes zeigt einen signifikanten, großen Effekt für den Zusammenhang zwischen Resilienz und Depressivität (r = 0,51; 95%-KI: 0,34–0,64; p _ 0,001) und einen signifikanten, mittelgroßen Effekt zwischen Resilienz und Angst (r = 0,37; 95%-KI: 0,14−0,57; p = 0,002).

Insgesamt sind die Ergebnisse für den Kontext gynäkologischer Erkrankungen damit vergleichbar mit den Befunden aus der Metaanalyse zum Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit bei Patienten mit einer körperlichen Erkrankung [17]. Je höher die Patientinnen ihre Resilienz einschätzten, desto besser nahmen sie auch ihre psychische Gesundheit wahr und berichteten entsprechend über geringere Angst bzw. Depressivität.

Schlussfolgerungen

Gynäkologische wie andere körperliche Erkrankungen können mit großer psychischer Belastung für die Betroffenen bis hin zu Symptomen von Angst und Depressionen einhergehen. Dies führt nicht nur zu einem erhöhten Versorgungsbedarf, sondern kann sich nachteilig auf Krankheitsverlauf und Genesung auswirken. Die Ressourcen zur Bewältigung solcher krisenhaften Lebenssituation sind bei Menschen jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt, sodass es sich empfiehlt, in der klinischen Praxis insbesondere diejenigen Patientinnen zu identifizieren, die über weniger solche Ressourcen verfügen. Als relevanter persönlicher Einflussfaktor für einen erfolgreichen Umgang mit Belastungen und die Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit hat sich psychologische Widerstandsfähigkeit bzw. Resilienz erwiesen. Durch Einsatz eines zeitökonomischen Screening-Fragebogens wie der Kurzform der Resilienzskala lässt sich feststellen, wessen psychische Gesundheit mit höherer Wahrscheinlichkeit durch eine gynäkologische Problematik gefährdet ist. Im nächsten Schritt kann Patientinnen mit niedriger Resilienzausprägung gezielt psychosoziale Unterstützung angeboten werden. Zu solchen Unterstützungsangeboten zählen u. a. Psychoedukation und Beratung, kognitiv-behaviorale Methoden, hypnotherapeutische Interventionen, supportive Therapien oder Entspannungsverfahren, die hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auch bei gynäkologischen Erkrankungen bereits evaluiert wurden [44–47].

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird zunächst das Konzept der Resilienz als Persönlichkeitsmerkmal eingeführt und dessen Einfluss auf die psychische Belastung im Rahmen körperlicher Erkrankungen allgemein beschrieben. Darüber hinaus wird spezifisch auf Studien eingegangen, die den Zusammenhang zwischen Resilienz und psychischer Gesundheit bei gynäkologischen Patientinnen untersucht haben. In den fünf berücksichtigten Studien findet sich eine mittlere, signifikante Korrelation von r = 0,40. Eine höhere Resilienz geht dementsprechend mit einer besseren psychischen Gesundheit bei gynäkologischen Patienten einher. In der klinischen Praxis ist es daher von besonderer Bedeutung, Patientinnen mit geringer Resilienz zu identifizieren und diesen Patientinnen psychosoziale Unterstützung zukommen zu lassen, damit sie ihre individuellen Belastungen und Nöte besser bewältigen können. Kurzformen der Resilienzskala, wie z. B. die RS-13, können für die Identifikation dieser Patientinnen als reliables, valides und zeitökonomisches Messinstrument genutzt werden.

Schlüsselwörter: Resilienz, psychische Gesundheit, Angst, Depressivität, gynäkologische Erkrankungen

Korrespondenzadresse:
Francesca Färber (M.Sc.)
PD Dr. phil. med. habil. Jenny Rosendahl
Universitätsklinikum Jena
Institut für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie
Stoystr. 3
07743 Jena
jenny.rosendahl@med.uni-jena.de

Slide Resilienz und psychische Gesundheit bei gynäkologischen Erkrankungen Gyne 04/2019 4

Literatur:

1. Bengel J, Lyssenko L. Resilienz und psychologische Schutzfaktoren im Erwachsenenalter – Stand der Forschung zu psychologischen Schutzfaktoren von Gesundheit im Erwachsenenalter. Köln: BZgA 2012
2. Gawlytta R, Rosendahl J.Was ist Resilienz und wie kann sie gemessen werden? Public Health Forum 2015; 23(4): 212–214
3. Herrman H, Stewart DE, Diaz-Granados N et al. What is Resilience? The Canadian J Psych 2011; 56(5): 258– 265
4. Leppert K, Richter F, Strauß B.Wie resilient ist die Resilienz? PiD – Psychotherapie im Dialog 2013; 14(01): 52–55
5. Luthar SS, Cicchetti D. The construct of resilience: Implications for interventions and social policies. Development and Psychopathology 2000; 12(4): 857–885
6. Werner EE, Johnson JL. The Role of Caring Adults in the Lives of Children of Alcoholics. Substance Use & Misuse 2004; 39(5): 699–720

Vollständige Literatur unter:
https://medizin.mgo-fachverlage.de/gynaekologie/gyne.html

Gyne 04/2019 – Neben den Genen – eine Einführung in die Epigenetik

Gyne 04/2019

Neben den Genen – eine Einführung in die Epigenetik

Autor:

  P. Spork

   

Einleitung

Programme zur Prävention von Alters- und Volkskrankheiten empfehlen in der Regel eine ausgewogene Ernährung, ausreichenden Schlaf und vor allem regelmäßige körperliche Aktivität. Sie berufen sich dabei auf eine Fülle epidemiologischer Studien, die keinen Zweifel daran lassen, dass derartige Lebensstilfaktoren unsere Gesundheit positiv beeinflussen können. Gleichzeitig ist aber sehr wenig über die zugrunde liegenden physiologischen und molekularbiologischen Prozesse bekannt. Nicht nur an diesem Punkt verändert sich derzeit dank einer jungen Wissenschaft das Bild. Die Epigenetik ist eine Tochterdisziplin der Genetik und scheint die entscheidende Schnittstelle zwischen Umwelteinflüssen und Lebensstilfaktoren auf der einen Seite sowie der Regulation der Gene in den einzelnen Organen, Zellen undGeweben auf der anderenSeite zu sein.

Die Epigenetik erklärt, wie es äußeren Signalen gelingt, das tiefste Innere der menschlichenPhysiologie –dieGenregulation – mehr oder weniger dauerhaft zu prägen. Damit erklärt sie auch, wie es höhere Lebewesen schaffen, sich sogar binnen kurzer Zeiträume an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen. Und sie erklärt, warum die perinatale Phase – die Zeit im Mutterleib und ungefähr im ersten Lebensjahr – sobesonderswichtigfürdie spätere Widerstandskraft eines Menschen ist. In dieser Zeit reifen diemeisten Organe, weshalb sie besonders sensibel und tiefgreifendmit epigenetischen Veränderungen auf äußere Einflüsse reagieren (für eine ausführliche Einführung in die Epigenetik siehe [1], für neueste Erkenntnisse zur perinatalen Programmierung und dem aus der Epigenetik resultierenden gewandelte Verständnis vonGesundheit siehe [2]) .

Die Epigenetik untersucht dabei nicht den eigentlichen Code des zentralen Erbgutmoleküls Desoxyribonukleinsäure (DNA). Er ist beim Menschen ein rund 3,3 Milliarden „Buchstaben“ umfassender und auf mehrere Chromosomen verteilter „Text“, der aus den vier möglichen Nukleotiden der DNA zusammengesetzt ist. Die Epigenetik beschäftigt sich stattdessen mit biochemischen Anhängseln, die entweder direkt an die DNA oder an mit der DNA assoziierte Proteine angelagert werden und die Aktivierbarkeit der Gene verändern. Das heißt, epigenetische Veränderungen lassen das genetische Erbe – den Text der Gene – völlig unberührt. Sie beeinflussen aber, ob und wie gut die Zelle bestimmte Gene ablesen kann. Damit hat die Epigenetik entscheidenden Einfluss auf den Phänotyp von Zellen undGeweben – und somit auf unser Erkrankungsrisiko.

Eine gesunde Lebensweise sowohl der Eltern vor und während der Schwangerschaft als auch der Kinder in den ersten Lebensjahren verbunden mit geringen Mengen an toxischem Stress und einer guten Eltern- Kind-Bindung entfalten deshalb sehr wahrscheinlich eine bis ins Alter anhaltendepräventiveWirkung. Neueste Studien legen nahe, dass dadurch sogar die Gesundheit mehrerer folgender Generationen positiv beeinflusstwerden kann [2].

Das zelluläre Gedächtnis für Umwelteinflüsse

Zentrale Aufgabe epigenetischer Markierungen ist es, die Identität der Zelle festzulegen, etwa als eine der rund 300 verschiedenen Zelltypen des Körpers. Nerven-, Haut- oder Muskelzellen sind zum Beispiel völlig verschieden, obwohl sie genetisch nahezu identisch sind. Sie arbeiten aber in verschiedenen epigenetischen Programmen. Auch für die Ausdifferenzierung von pluripotenten Stammzellen über Vorläuferzellen zu spezifischen, so genannten adulten oder reifen Zellen sind Veränderungen der zellulären Epigenome verantwortlich.

Als Epigenom wird dabei die Gesamtheit der epigenetischen Strukturen in der Zelle bezeichnet, vergleichbar dem Genom als Gesamtheit des genetischen Textes. Dieser Aspekt unterstreicht, dass die Epigenetik eines Menschen sehr viel komplexer ist als seine Genetik:Wir besitzen in der Regel nur ein Genom, aber wir haben Abertausende, vielleicht sogar Abermillionen verschiedene Epigenome.

Der Begriff Epigenetik wurde vom britischen Entwicklungsgenetiker Conrad Hal Waddington in den 1940er Jahren geprägt (_ Abb. 1, S. 22). Das erste epigenetisch aktive Enzym identifizierten Charles David Allis und Kollegen im Jahr 1996 [3] (für eine aktuelle Übersicht über die Geschichte der Epigenetik siehe [4]). Die griechische Vorsilbe „Epi“ bedeutet so viel wie „neben“, „über“, „zusätzlich“ oder „anbei“. Nach der bekanntesten Definition ist die Epigenetik tatsächlich eine Art Nebengenetik: Sie beschreibt alle nicht im DNA-Code gespeicherten Strukturen, die die Eigenschaften und den Stoffwechsel einer Zelle kontrollieren und von ihr an Tochterzellen weitergegeben werden [5]. So sind mitotisch – also ungeschlechtlich – vererbte epigenetische Markierungen beispielsweise verantwortlich dafür, dass aus einer Blutstammzelle immer nur Blutzellen werden, während sich neue Haut immer nur aus Hautvorläuferzellen entwickelt und so weiter.

Eine neuere, besonders elegante Definitionen der Epigenetik lautet: „Epigenetik ist die Weitergabe erworbener Information ohne Veränderung der DNA-Sequenz“ [6]. Noch umfassender sollte man vielleicht sogar schlicht von erworbenen molekularbiologischen Umweltanpassungen sprechen, die nicht in der DNA-Sequenz gespeichert sind. Letztlich geht es nämlich nicht nur um die Weitergabe der Information, sondern auch um deren Speicherung, also um eine Art zelluläres Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Nervenzellen leben beispielsweise meistens bis zum Tod eines Menschen und teilen sich nie. Dennoch können sie epigenetische Programme dauerhaft einfrieren und aufbewahren.

Was die Natur mit dem Werkzeugkasten der Epigenetik anstellt, ist beachtlich: Die Metamorphose einer Raupe zum Schmetterling ist letztlich eine ontogenetisch gesteuerte Umprogrammierung der Epigenome zahlreicher Zellen. Im Gegensatz dazu fällt die wichtigste Entscheidung imLeben einer Honigbiene durch ein Umweltsignal: Alle Larven eines Bienenvolkes sind sich genetisch sehr ähnlich. Jede hat das Potenzial zur fruchtbaren und langlebigen Königin. Ob die Larve aber wirklich eine Königin oder doch eineArbeiterinwird, hängt vomFutter ab. Geben ihr die Ammenbienen ab dem dritten Lebenstag nur Gelee Royal, wandeln sich die Epigenome vieler ihrer Zellen und sie entwickelt sich zur Königin. Füttern die Ammenbienen Pollen undNektar hinzu, entsteht eine Arbeiterin [7].

Epigenetische Schalter und Dimmer

Auch bei uns Menschen ist längst klar: Unsere Epigenome verändern sich im Laufe des Lebens [8]. Sie reagieren auf das Klima, die Nahrung, das Bewegungsverhalten, den biologischen Stress und vieles mehr. Selbst eineiige Zwillinge sind sich epigenetisch gesehen immer unähnlicher, je älter sie werden und je verschiedener ihr Lebensstil ist. Das Leben hinterlässt molekularbiologische Spuren in den Zellkernen, verändert das Gedächtnis der Zellen. Das kann sogar so weit führen, dass ein Zwilling ein hohes Krebs- oder Diabetesrisiko hat, der andere nicht [9].

Ein Teil der etwa 23.000 in die menschliche DNA eingebauten Gene scheint für jede Zelle lebenswichtig zu sein und ist immer aktiv. Die anderen Gene unterliegen der epigenetischen Steuerung. Es gibt mehrere Systeme, die sie mehr oder weniger konsequent an- oder ausschalten oder herauf- bzw. herunterdimmen können. Das bekannteste und am besten erforschte System sind Methylgruppen (CH-3), die direkt von Enzymen aus der Klasse der DNA-Methyltransferasen (DNMT) an die Cytosin-Nukleotide der DNA gebunden werden. Geschieht dies in der Nähe einer so genannten Promotor- Region, die die Aktivität eines Gens steuert, verhindert es meist das Ablesen der genetischen Information. Eine Methylierung an anderen Stellen bewirkt hingegen häufig, dass Gene auf „aktivierbar“ geschaltet werden.

Substanzen wie Azacitidin, Decitabin und Zebularin, die DNMTs bei ihrer Arbeit behindern, heißen DNMTInhibitoren. Da sie epigenetisch abgeschaltete Gene wieder aktivierbar machen, gelten sie als viel versprechende potenzielle Arzneimittel. In der Krebstherapie werden sie zum Teil bereits erfolgreich verwendet [10], und auch über ihren Einsatz als Psychopharmaka wird nachgedacht.

In den Körperzellen des Menschen sind vier Fünftel der zu diesem Zweck besonders geeigneten Stellen an der DNA methyliert. Diese Stellen sind sogenannte CpG-Inseln, wo oft in größerer Zahl zwei Cytosin-Basen auf beiden Strängen der DNA schräg gegenüber liegen. Die DNA ist dann immer an beiden Strängen methyliert – ein geschickter Mechanismus, der dafür sorgt, dass eine Zelle im Fall der Teilung das Muster ihrer DNA-Methylierungen an beide Tochterzellen vererbt (_ Abb. 2). Die Töchter übernehmen jeweils einen der beiden methylierten Stränge und methylieren danach mit Hilfe von DNMTs auch das Cytosin auf dem gegenüberliegenden Strang.

Das zweite wichtige epigenetische Schaltersystem befindet sich an den Histonen. Als Histone bezeichnet man eine Gruppe von basischen Proteinen, die als wichtiger Bestandteil des Chromatin genannten DNA-Protein- Gemischs die DNA verpacken und schützen. Es gibt vier verschiedene Histone, die sich – einmal verdoppelt – zu einem Oktamer zusammenlagern. Ein solches Oktamer kann 147 Basenpaare der DNA-Doppelhelix aufspulen und bildet dann die Grundeinheit des Chromatins, das Nukleosom. Histone können von der Zelle mit Hilfe von Chromatin- Enzymen vielfältig biochemisch verändert werden. Sie unterliegen der Histonmodifikation. Dabei können sich einzelne Modifikationen gegenseitig beeinflussen und die biochemischen Veränderungen des Chromatins entweder verstärken oder abschwächen. Die Abfolge und Kombination dieser biochemischen Histonveränderungen entlang des Chromatins wird auch als Histon-Code bezeichnet, denn beides beeinflusst die Aktivierbarkeit der Gene.

Doch die epigenetischen Veränderungen an den Histonen können noch viel mehr: Manche ermöglichen, dass Enzyme und andere Proteine oder Proteinkomplexe an das Erbgut binden, die wichtige regulatorische Aufgaben haben oder Schäden in der DNA reparieren. Andere Histonmodifikationen geben den Zugriff auf so genannte Enhancer frei, die die Aktivität benachbarter Gene verstärken, oder sie sorgen dafür, dass ein Enhancer in die Nähe eines Gens gelangt, das besonders häufig abgelesen werden soll, und so fort. Wieder andere Chromatinmodifikationen entscheiden mit, ob das von ihnen kontrollierte DNAStück nahe am Rand des Zellkerns aufgehängt wird und damit schlechter für die Gen-Ablesemaschinerie erreichbar ist als Gene, die sich im Zentrum des Zellkerns befinden. Epigenetiker haben inzwischen rund 200 verschiedene Histonveränderungen entdeckt, die in irgendeiner Form Einfluss auf die Genregulation nehmen: Es gibt zum Beispiel Methylierungen, Acetylierungen, Ubiquitinierungen und Phosphorylierungen – und das an den verschiedensten Stellen der Histone [5].

Bekannte und gut untersuchte Enzyme, die den Histon-Code verändern, sind die Histondeacetylasen (HDAC) und die Histonmethyltransferasen. Erstere entfernen Acetylgruppen von Histonen, die anderen lagern Methylgruppen an. Beides fördert im Allgemeinen die Bildung von besonders kompaktem Heterochromatin, erschwert also das Ablesen der DNA. Wirkstoffe wie Valproinsäure, Vorinostat oder SAHA, die HDACs behindern, heißen HDAC-Hemmer. Ähnlich wie die DNMT-Inhibitoren werden sie zum Teil bereits erfolgreich in der Onkologie eingesetzt und gelten als viel versprechende Kandidaten im Kampf gegen eine Reihe weiterer Krankheiten.

Derzeit wird darüber hinaus an einer neuen Gruppe deutlich spezifischerer epigenetischer Medikamente geforscht. Besonders vielversprechend sind erste Versuche mit Hemmern der Histonmethyltransferase EZH2 [11] oder sogenannter Bromodomains, die den Histon-Code lesen und weitere die Genaktivität regulierende Enzyme gezielt an geeignete DNA-Stellen lotsen [12].

Als drittes epigenetisches System produziert die Zelle verschiedene nichtkodierende Ribonukleinsäuren (RNAs), vor allem Mikro-RNAs (miRNAs), aber auch so genannte langkettige und zirkuläre nichtkodierende RNAs (lncRNAs und circRNAs) sowie kleine interferierende RNAs (small interfering RNAs; siRNAs). Zu deren Aufgaben gehört es, die Übersetzung der Erbinformation bestimmter, spiegelbildlich zu ihnen passender Gene in ein Protein zu behindern. Das entsprechende Gen wird damit rückwirkend blockiert oder in seiner Aktivität gedämpft. Für die Entdeckung dieser RNA-Interferenz erhielten Andrew Fire und Craig Mello im Jahr 2006 den Nobelpreis für Physiologie bzw. Medizin.

Doch nichtkodierende RNAs übernehmen noch weitere epigenetische Aufgaben. Da sie Sequenzen enthalten, die spiegelbildlich zu bestimmten kodierenden DNA-Abschnitten passen, benutzen Zellen sie offenbar auch als Boten, die epigenetische Enzyme gezielt an bestimmte, zu ihrem Code passende Stellen der DNA transportieren. Mit ihrer Hilfe kann die Zelle also entscheiden, welche ihrer Gene sie per DNA-Methylierung oder Veränderung des Histon-Codes epigenetisch auf aktivierbar oder inaktivierbar stellt [13].

Gesundheit ist kein Zufall

Dank der enormen Fortschritte bei der Sequenzierung genetischer und epigenetischer Informationen mit Hilfe moderner Apparate und Computer ist es inzwischen möglich, auf der Ebene einzelner Gewebe- und Zelltypen direkt zu messen, welche Auswirkungen Einflüsse des Lebensstils und aus der Umwelt auf die Genregulation und die epigenetische Prägung der Zellen haben. Besonders wichtig für diese Arbeit war, dass zunächst im Rahmen des im Jahr 2003 abgeschlossenen Humangenomprogramms der menschliche DNA-Code komplett gelesen wurde und dass man heute von immer mehr Genen die Funktion kennt.

In großen Forschungskonsortien wie dem Internationalen Humanen Epigenomprogramm IHEC, dem EU-Programm BLUEPRINT oder dem Deutschen Epigenomprogramm DEEP wird seit einigen Jahren systematisch erforscht, welche epigenetischen Unterschiede beispielsweise zwischen verschiedenen Zelltypen oder auch zwischen gesunden und kranken Zellen des gleichen Typs bestehen. Es gibt inzwischen sogar Untersuchungen, die systematische epigenetische Veränderungen im Verlauf einer gesunden oder auch pathologischen Entwicklung einzelner Organe und Zellverbünde aufzeichnen.

Man kann sagen, die Wissenschaft belauscht mittlerweile die Interaktion zwischen äußeren Einflüssen und epigenetischen Veränderungen, die der Stammzellforscher Rudolf Jaenisch, Boston, einst als „das Gespräch zwischen Erbe und Umwelt“ bezeichnete [1]. Der Autor des vorliegenden Artikels versteht ein solches Gespräch als permanente Anpassungsleistung des Organismus an die sich stetig wandelnde Umwelt. Und er sieht in dieser Leistung das eigentliche Substrat dessen, was wir Gesundheit nennen. Anders als es die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert, ist Gesundheit deshalb auch nicht das Gegenteil oder die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist demnach auch kein Zufallsprodukt, sondern ein generationenüberschreitender Prozess, der die Wahrscheinlichkeit der mitunter zufällig eintretenden Krankheit verringert [2].

Gut erforscht – teilweise allerdings überwiegend in Zellkulturen oder Tiermodellen – sind epigenetische Veränderungen, die praktisch jede Form von Krebserkrankung begleiten [14, 15], aber auch die epigenetischen Folgen von toxischem psychosozialen Stress [16] oder einer anhaltenden Über- und Fehlernährung [17]. Auch das biologische Alter eines Menschen kann man mit keiner anderen Methode so exakt bestimmen, wie mit einem als epigenetische Uhr bezeichneten Algorithmus, der das Muster der DNA-Methylierungen auswertet: auf plus/minus 3,6 Jahre genau [18].

Besonders beeindruckend ist zudem eine ganze Serie von Studien, die den Einfluss von Sport auf das Stoffwechselgeschehen in Muskel- oder Fettgewebe anschaulichmacht. Eine aktuelle Untersuchung der Muskelzellen von 16 Männern im Alter von 60 bis 65 Jahren ergab zum Beispiel, dass jene Männer, die zeitlebens Sport getrieben hatten, an 714 Promotoren eine geringere DNA-Methylierung besaßen als unsportliche Männer. Die betroffenen Promotoren kontrollieren die Aktivität von 745 Genen, darunter solche, die den Zellstoffwechsel in eine positive, gesunderhaltende Wirkung verändern. Einige dieser Gene enthalten Baupläne für Enzyme, die die Insulin- Empfindlichkeit erhöhen oder anderweitig in den Kohlenhydratstoffwechsel eingreifen, was beides das Diabetesrisiko beeinflusst. Andere der leichter aktivierbaren und dadurch auch häufiger aktivierten Gene helfen den Zellen im Kampf gegen oxidativen Stress. Oder sie fördern den Muskelaufbau, was zum Beispiel erklären könnte, wieso Menschen, die immer schon viel Sport getrieben haben, ihre Muskeln auch im Alter schneller und effektiver reaktivieren können [19].

Weitere viel beachtete Studien zum Thema demonstrierten, dass sich die Epigenetik in Muskelzellen bereits nach einem 20-minütigen Ergometertraining wandelt, dass ein sechsmonatiges Sportprogramm die epigenetische Regulation von Fett- und Muskelzellen an 7.663 Genen verändert und dass sich nach einem Programm, bei dem 23 Probanden über drei Monate hinweg nur ein Bein trainierten, die Epigenetik der Muskulatur zwischen beiden Beinen an knapp 5.000 Stellen unterschied [20].

Perinatale Programmierung und Gesundheit

Für die Prävention von Volks- und Alterskrankheiten gewinnt ein weiterer Aspekt der Epigenetik zunehmende Bedeutung: Viele wichtige epigenetische Markierungen werden bereits in empfindlichen Prägephasen während der Organentwicklung gesetzt – also vor allem im Lauf der Schwangerschaft und in den ersten Jahren des Lebens bis zur Pubertät. Diese epigenetischen Weichenstellungen tragen maßgeblich zur sogenannten perinatalen Programmierung der späteren Gesundheit und Persönlichkeit bei [21]. Dadurch prägen der Lebensstil der werdenden Eltern sowie das psychosoziale Klima und die Ernährung während der frühen Kindheit entscheidend die Krankheitsanfälligkeit im gesamten späteren Leben. Es gibt zum Beispiel Hinweise, dass ein frühkindliches Trauma oder schwerste anhaltende Vernachlässigung in jungen Jahren bei Menschen eine bleibende Umprogrammierung von Gehirnzellen auslösen und die Menschen dadurch sehr viel später anfällig für Depressionen oder eine Neigung zu gewalttätigem Verhalten machen kann [22].

Eine ähnlicheWirkung auf die Epigenetik der Stressregulation des Kindes hat es, wenn die Mutter während der Schwangerschaft mehrfach stark traumatisiert wurde [23]. Und selbst wenn die Großmutter mütterlicherseits während ihrer Schwangerschaft mehrfache Gewalterfahrungen machen musste, finden sich epigenetische Auffälligkeiten bei den Enkeln. Diesen Umstand erklärt mansich damit, dass die Eizellen, aus denen die Enkel später hervorgegangen sind, im Embryonalstadium der Mutter angelegt worden sind und eventuell bereits zu diesem Zeitpunkt empfänglich für hormonell vermittelte Signale waren [24].

Nach dem gleichen Prinzip können andere Umweltfaktoren wie eine Überernährung oder ein Schwangerschaftsdiabetes der schwangeren Mutter oder Bewegungsmangel und Fehlernährung des Kindes in den ersten Lebensmonaten dessen am Stoffwechsel beteiligte Zellen so verändern, dass es im Alter eher als andere zu Typ-2-Diabetes, Adipositas oder Herz-Kreislauf-Krankheiten neigt [25].

Im Jahr 2018 fasste der unlängst verstorbene Biopsychologe und Stressforscher Dirk Hellhammer, Trier, solche und viele weitere – auch eigene – Resultate zu dem prägnanten Fazit zusammen: „Vor- und nachgeburtliche Belastungen sind mit Abstand der größte Risikofaktor für später im Leben auftretende stressbezogene Gesundheitsstörungen“ [26]. Diese Aussage ist vor allem bemerkenswert, da zu den sogenannten Stresskrankheiten die meisten wichtigen Volkskrankheiten zählen, also neben nahezu jeder psychischen Erkrankung auch Typ-2- Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauf- Krankheiten und zu einem gewissen Anteil Krebs.

Es ist längst anerkannt, dass die Gesundheit eines Menschen – sofern man diese als kontinuierlichen Prozess begreift – neun Monate vor seiner Geburt beginnt, letztlich zum Zeitpunkt der Empfängnis. Das biologische Substrat, das dem Körper die Fähigkeit verleiht, Informationen aus der perinatalen Phase zu speichern und die daraus resultierende, mehr oder weniger ausgeprägte Widerstandskraft bis ins hohe Alter wirken zu lassen, ist zu einem großen Teil die Epigenetik. Doch jetzt häufen sich die Hinweise, dass die Prägung unserer Gesundheit bereits deutlich vor der Empfängnis startet. „The Lancet“ widmete imJahr 2018 gleichmehrere Beiträge demThema der präkonzeptionellen Gesundheit. Danach beeinflussen unsere spätereGesundheit bereits Ereignisse, die sich Monate bis Jahre vor unserer Zeugung ereignen. ZumBeispiel sollteman zukünftige Eltern zu ausgewogener Ernährung und ausreichender Bewegung motivieren, über ungesunde Verhaltensweisen wie das Rauchen oder starken Alkoholkonsum noch besser aufklären sowie gezielte Maßnahmen gegen Übergewicht oder Mangelernährung ergreifen. Bei zukünftigen Müttern sollteman zudembesser als heute auf ausreichende Blutspiegel wichtiger Mikronährstoffe wie Folsäure oder Eisen achten [27].

Auch hier spielt die Epigenetik eine zentrale Rolle. Denn es häufen sich zunehmend die Indizien, dass der Lebensstil der Eltern die Epigenetik von Ei- und Samenzellen beeinflusst. Die Spermien adipöser Männer haben zum Beispiel sehr verschiedene Epigenome, je nachdem ob man sie vor oder nach einer Magenbypass-Operation analysiert [28]. Auch Nikotinkonsum oder sogar in früher Kindheit erlebter toxischer Stress scheinen die Epigenetik in den Spermien Erwachsener Männer zu verändern [29]. Es ist vor allem aus vielen Experimenten mit Nagetieren bekannt, dass solche Veränderungen das Erkrankungsrisiko der Nachkommen beeinflussen [2].

Transgenerationelle Epigenetik und Ausblick

An diesem Punkt verschwimmen die Grenzen zu einem besonders spektakulären Teilgebiet der Epigenetik: der transgenerationellen epigenetischen Vererbung. Dabei geht es um die Möglichkeit, dass epigenetisch erworbene Umweltanpassungen über die Keimbahn an folgende Generationen weitervererbt werden. Bei Pflanzen, Würmern und Fliegen ist die Existenz dieses Phänomens längst zweifelsfrei belegt (_ Abb. 3). Bei Säugetieren und vor allem dem Menschen ist das Bild weniger klar, denn diese Art der nichtgenetischen Vererbung setzt mehrere Grundbedingungen voraus: Sie muss über mindestens vier Generationen nachgewiesen sein, da unsere Keimbahn wie bereits erwähnt schon im Großmutterleib angelegt wird. Und es muss ausgeschlossen sein, dass die Informationen per wiederholter perinataler Programmierung transportiert worden sind. Außerdem ist derzeit noch umstritten, auf welche Weise die epigenetischen Markierungen die wichtigen Phasen der epigenetischen Reprogrammierung bei der Bildung neuer Keimzellen und direkt nach der Befruchtung überstehen. Diese setzen den neuen Keim epigenetisch in eine Art Urzustand zurück, aus dem dann wieder jeder mögliche Zelltyp des späteren Lebens werden kann.

Doch die Indizien, die für die transgenerationelle epigenetische Vererbung auch bei Menschen sprechen, nehmen zu. So belegen einige Experimente mit Nagetieren, dass sowohl das DNA-Methylierungsmuster als auch der Histon-Code zwischen den Generationen nicht immer so vollständig zurückgesetzt werden, wie man früher dachte. Außerdem scheinen nichtkodierende RNAs als eine Art epigenetische Boten zwischen den Generationen zu funktionieren. Sie sind von der Reprogrammierung nicht betroffen und könnten helfen, wichtige Markierungen sehr früh im Leben gezielt neu zu setzen (für eine Übersicht siehe [2, 30]).

Faszinierend ist inzwischen auch die Fülle der Studien mit verschiedenen Arten von Nagetieren, die belegen, dass die negativen epigenetischen Folgen einer Fehlernährung, Vergiftung oder Traumatisierung selbst dann an mehrere folgende Generationen weitergegeben werden, wenn nur die Väter betroffen sind und die Nachkommen teils sogar per künstlicher Befruchtung gezeugt wurden. Eine der jüngsten Studien dieser Art zeigte den prägenden Effekt einer frühkindlichen Traumatisierung von Mäusen sogar noch in der vierten Folgegeneration [31].

Für eine möglichst erfolgreiche Krankheitsprävention der Zukunft enthalten all diese Befunde aus der Welt der Epigenetik eine klare Botschaft: In der wichtigen Phase, die mit dem Kinderwunsch zukünftiger Eltern beginnt und über die Schwangerschaft sowie die frühe Kindheit bis zur Pubertät anhält, wirken sich gesellschaftliche Maßnahmen zur Gesundheitsförderung unter Umständen doppelt bis dreifach aus. Werdende Eltern sollten deshalb besser als heute unterstützt und entlastet werden. Und Gesundheitsprogramme sollten so früh wie irgend möglich starten. Es ist gut möglich, dass sich eine solche Strategie noch drei oder vier Generationen später auszahlt.

Zusammenfassung

Komplexe menschliche Merkmale wie Resilienz, Lebenserwartung, Gesundheit oder Persönlichkeit entstehen niemals schicksalhaft fast ausschließlich aus den geerbten Anlagen heraus. Sie sind immer das Resultat des untrennbaren Zusammenspiels aus genetischem Erbe, gegenwärtiger Umwelt und prägenden Einflüssen aus der Vergangenheit. Für letzteres hat die Evolution einen eigenen Mechanismus geschaffen. Mit ihm beschäftigt sich die junge Wissenschaft der Epigenetik.

Epigenetische Strukturen reagieren auf Umwelteinflüsse und Lebensstilfaktoren, indem sie die Aktivierbarkeit der Gene in den Körperzellen verändern. Zellen haben dadurch ein Gedächtnis für Umwelteinflüsse. Das heißt, sie wechseln ihre Stoffwechselprogramme, auch als Phänotypen bezeichnet.

Das epigenetische Programm interpretiert also vor dem Hintergrund der genetischen Anlagen die Einflüsse des Lebensstils und aus der Umwelt. Es ist reversibel und beeinflusst das individuelle Erkrankungsrisiko. Zudem enthält es prägende Informationen aus der Vergangenheit. Besonders wichtig ist hierbei die perinatale Phase, also die Zeit im Mutterleib und ungefähr im ersten Jahr nach der Geburt. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass epigenetisch gespeicherte Umweltanpassungen zusätzlich über die Keimbahn vererbt werden können. Diese transgenerationelle epigenetische Vererbung wäre ein bislang kaum beachteter, neuer Faktor für unsere Gesundheit. Für die Präventionsmedizin ergeben sich aus diesen Erkenntnissen wichtige neue Ansätze zur Vorbeugung nahezu aller so genannterVolks- undAlterskrankheiten.

Schlüsselwörter: Epigenetik, Genregulation, perinatale Programmierung, frühkindliche Prägung, komplexe Krankheiten

Korrespondenzadresse:
Dr. rer. nat. Peter Spork
Wissenschaftsautor
Gneisenaustr. 34
20253 Hamburg
info@peter-spork.de

Slide Neben den Genen - eine Einführung in die Epigenetik Gyne 04/2019 3

Gyne 04/2019 – Ärzte und Ärztinnen zwischen Burnout und Selbstfürsorge

Gyne 04/2019

Ärzte und Ärztinnen zwischen Burnout und Selbstfürsorge

Autorin:

  M. Neises

          

Gesund versus krank

Die Diagnose von Gesundheit oder Krankheit ist fließend und in der ärztlichen Praxis oft eine Herausforderung; dies gilt sowohl für körperliche als auch für psychische Befunde. Gensichen und Linden gehen diesem Dilemma in ihrem Beitrag „Gesundes Leiden – die Z-Diagnosen“ nach [1]. Die Grauzone hinsichtlich von Blutdruckwerten zwischen eindeutig krank bzw. eindeutig gesund ist in Abhängigkeit von Alter, Begleiterkrankungen und Untersuchungssituation genauso differenziert zu bewerten wie für depressive Syndrome bzw. Missstimmung. Vor dem Hintergrund dieser beiden Pole lässt sich sagen: Es gibt niemanden, der keine oder nie psychische Probleme hat. Betrachtet man das Spektrum negativer Gefühle, vergeht kaum ein Tag, an dem wir vielleicht nicht verstimmt, freudlos,
lustlos, traurig, bedrückt, erschöpft, frustriert oder verzweifelt sind. Lebenssituationen wie z. B. Beziehungskrisen haben das Potenzial, dieses Befinden dauerhaft zu verstärken oder auch Arbeitssituationen, in denen wir uns Bossing oder Mobbing ausgesetzt fühlen oder ausgesetzt sind. In diesem Kontext gilt es das Thema Burnout zu diskutieren.

Bei der Diagnosestellung von psychischen Erkrankungen wird das Dilemma besonders deutlich, wenn sich die Diagnose auf das Abfragen von psychischen Beschwerden stützt, ohne dass ein diagnostisches Gespräch erfolgt. So kann es leicht passieren, dass die Absenkung der Schwelle, von der an eine Krankheit angenommen wird (z. B. bei Fragebögen) die Zahl der Auffälligen erhöht. Ohne Experteninterview ist die Unterscheidung von Unglücklichsein und Krankheit oft schwer zu treffen.

Mit einer Krankheitsdiagnose verbinden sich vielfältige positive wie negative Konsequenzen. Die Zuordnung zu einer Krankenrolle kann den sogenannten sekundären Krankheitsgewinn fördern, d. h. ein Anspruch auf Rücksichtnahme, Hilfe, ggf. Freistellung von Aufgaben und die Legitimation einer Behandlung. Gensichen und Linden spitzen dies in der Aussage zu, die Behandlung eines Schwächezustandes mit Diagnose sei eine Behandlung, hingegen eine Behandlung ohne Diagnose sei Doping [1].

Die Aufgabe, Krankheit von subjektivem Leid aufgrund von Belastungen abzugrenzen, ist in der Medizin eine wichtige und auch schwierige Aufgabe. Genauso wichtig ist es aber auch, „alltägliche Beschwerden“ als Erleben im Bereich des Gesunden zu benennen. Ein überzeugendes Beispiel ist der Dermatologe, der einen Leberfleck feststellt und diesen als gesund diagnostiziert in Abgrenzung von einem Melanom. Diese Expertise braucht es in besonderer Weise auch, wenn es um psychische Belastungen und Probleme geht. In der Medizin tun sich Ärzte und Ärztinnen oft schwer mit der Feststellung, dass keine Krankheit vorliegt. Auch Patienten haben oft Schwierigkeiten, eine solche, vielleicht konfrontativ vorgetragene Einschätzung zu akzeptieren. Hilfreich ist die Empfehlung, die in den Kursen der Psychosomatischen Grundversorgung gegeben wird, zu beschreiben, was als gesundes Organ eingeschätzt wurde, statt zu sagen: „Sie haben nichts“.

Im psychischen Bereich können Müdigkeit und Erschöpfungsgefühle völlig angemessene Reaktionen sein auf Schlafdefizite oder auf lange Arbeitstage und Nachtdienste. Sie können aber auch Symptome vielfältiger Krankheiten sein, von Schlafstörungen und Depressionen bis hin zu Karzinomerkrankungen. Dass der Ausschluss einer differenzialdiagnostischen Überlegung oft langwierig und kostenintensiv ist, liegt auf der Hand.

Die sogenannten Z-Codes wurden in diesem Übergangsbereich eingeführt, sie umfassen z. B. Probleme am Arbeitsplatz, in der Familie und in der Lebensführung oder auch unspezifische Beschwerden ohne Krankheitswertigkeit. In den letzten Jahrzehnten hat diese Kategorie insbesondere mit der Diskussion um das Burnout-Syndrom zunehmende Aufmerksamkeit erfahren. Die Z-Diagnosen bieten so die Möglichkeit, auf einem Kontinuum zwischen Krankheit und „gesunden Leidenszuständen“ eine für den Patienten bedeutsame klinische Situation zu beschreiben, ohne eine medizinische Überversorgung inGang zu setzen und auch ohne die Betroffenen durch eine voreilige Diagnose zu beunruhigen. In der täglichen medizinischen Praxis verdienen diese Z-Kategorien mehr Aufmerksamkeit. Als subjektives Krankheitsmodell erleichtert ein solches Verständnis den Betroffenen, ihre Problematik zu reflektieren, zu kommunizieren und unter Umständen auch um Hilfe zu suchen.

Dieses selbstwahrgenommene Überschreiten einer Belastungsgrenze kann durchaus positive Konsequenzen haben, wenn damit einWeg gefunden wird, Belastungen, Symptomeund eigene Grenzen als solche zu reflektieren und Hilfen in Anspruch zu nehmen, sei es durch Beratung, ggf. auch durch psychotherapeutische  Behandlung. Insofern ist auch  im psychotherapeutischen Kontext  der Begriff des Burnouts nützlich,  kann er doch helfen einen Zugang  zum Patienten/zur Patientin zu finden  und ihm/ihr Verstehen und Akzeptieren  vermitteln. Das Leiden der  Betroffenen sollte aber darüber hinaus  nicht dazu verleiten, gewissermaßen  aus Solidarität Burnout mit  einer Diagnose zu verwechseln, die  die Ursache der Überforderung  überwiegend im Außen sucht.

Definition und begriffliche  Abgrenzung 

Den Begriff Burnout hat Freudenberger  1974 eingeführt [2], der als Holocaust-Überlebender in die USA immigriert  und als Psychoanalytiker in New  York mit hohem Engagement für soziale  Randgruppen tätig war. Von ihm  wurde die Burnout-Symptomatik insbesondere  als Ausdruck einer Überlastungskonstellation,  d. h. als Erschöpfungssyndrombeschrieben.

Seither wird Burnout als Synonym  für psychische, psychosomatische  und soziale Folgen, langandauernder,  das individuelle Leistungsvermögen  übersteigender beruflicher  Belastungen, angesehen. Vielfach  wird der Begriff als Diagnoseäquivalent  benutzt, obwohl er in der ICD10  lediglich als Zusatzkodierung Verwendung  findet.

Ditzler nennt als die drei Kardinalssymptome  des Burnouts-Syndroms  anhaltende Erschöpfung, Depersonalisation  und das Gefühl der reduzierten  Leistungsfähigkeit [3]. Diese  werden als Ausdruck einer chronischen  Stressreaktion angesehen,  wobei Burnout das Ergebnis eines  längeren Prozesses ist, der sich aus  Arbeitsbelastung, empfundenem  Stress und psychologischer Anpassungsfähigkeit  zusammensetzt. Das  Geschehen lässt sich wie in  Abbildung  1 zusammenfassen.

Das mit diesem Begriff beschriebene  Syndrom wird mit zahlreichen Symptomen  in Verbindung gebracht  (­ Tab. 1), wobei die drei Hauptsymptome  immer wieder unter starker  Kritik stehen. Danach sei lediglich  emotionale Erschöpfung als Symptom  einzustufen, während Depersonalisation/  Zynismus eher als Copingstrategie  und verringerte subjektive  Leistung als Resultat auf chronischen  Stress zu bewerten seien [4].

Die Leistungsabnahme spielt bei  Ärzten bei anfänglichem Burnout im  Vergleich zu anderen Berufsgruppen  eine untergeordnete Rolle, diese ist  das schwächste Diagnosekriterium.  Die eigene Leistungsorientierung als  Ressource verhindert bis zu mehr als  einem Jahrzehnt den kompletten  Zusammenbruch trotz Burnout. So  sind nach Bergner Ärzte seit ihrem  Studium darauf trainiert ihrenWillen  einzusetzen [5].

Notwendig ist eine begriffliche Abgrenzung  zur beruflichen Sinnkrise,  die ebenfalls auftreten kann aufgrund  von Überarbeitung, Überforderung,  Zeitdruck und auch fehlende  Anerkennung oder schlechte Bezahlung  und persönliche Konfliktfelder,  wenn z. B. eigene Bedürfnisse  und familiäre Verpflichtungen nicht  mehr oder nur unzureichend miteinander  vereinbar sind. In der Konsequenz  kann Burnout auch als die  Sinnfrage im persönlichen Leben angenommen  werden. Um sich dieser  Frage zu nähern, ist es wichtig, zu erkennen,  welche Rollen wir ausführen  möchten und welche individuellen  Ziele wir haben.

Bei Konflikten im interpersonellen  Bereich wird von „Mobbing“ gesprochen.

Gesellschaftliche Aspekte

Burnout wird in der gesellschaftlichen  Diskussion seit den 1970er Jahren  genutzt, wobei dies ohne die  sonst mit psychischen Störungen  verbundene Stigmatisierung geschieht. Ditzler formuliert: „denn nur der ist ausgebrannt, der einmal für seine Arbeit gebrannt hat“ [3]. Insbesondere auch für die Medien, die dieses Thema aufgreifen, wurde eine neue Volkskrankheit ausgerufen. Die Popularität von Burnout verweist jedoch auf vitale Bedürfnisse und Nöte einer im Wandel begriffenen Gesellschaft, in der viele durch Veränderungen vor allem in der Arbeitswelt belastet und existenziell bedroht sind.

Schließlich gibt es auch im Hintergrund unserer westlichen Industriegesellschaft grenzwertige Gesundheitsbelastungen, die mit unserem Lebensstil zusammenhängen. Dazu gehören Bewegungsmangel, Fehlernährung und chronischer Stress bei gleichzeitigem Verlust von traditionellen sozialen Beratungs- und Stützungsfunktionen (z. B. durch eine Mehrgenerationenfamilie). Bei zunehmender Individualisierung oder Reduktion der Familienstrukturen auf zwei bis vier Personenhausalte, fehlen wohlmeinende Bezugspersonen, die bei körperlichen Beschwerden oder eskaladierenden Beziehungsauseinandersetzungen Rat geben können, ohne „sofort“ medizinische Dienste aufzusuchen.

Arbeitswelt

In der gesellschaftlichen Entwicklung mit zunehmender Globalisierung bei gleichzeitig unsicheren und stressbelasteten Arbeitsverhältnissen entsteht in soziokultureller Hinsicht die Voraussetzung, dass Burnout zu einem Phänomen unserer Zeit werden konnte. Es liegen hinreichend arbeitspsychologische Untersuchen vor, die unter dem Stressparadigma keinen Zweifel daran lassen, dass bestimmte Konstellationen gesundheitsschädliche Auswirkungen haben [6]. Je höher das Arbeitstempo und je weniger Kontrollmöglichkeiten eine Person hat, je geringer die erlebte Anerkennung ist und je unsicherer der Arbeitsplatz, umso höher ist das Risiko, psychosomatische Erkrankungen bzw. Stress-Symptome zu entwickeln. Von 2001 bis 2005 stieg der Anteil der durch psychische Störung bedingten AU-Tage von 6,6 auf 10,5%an. Bei unter 50- Jährigen stehen depressive Störungen als Frühberentungsgrund mittlerweile an zweiter Stelle. Wer diesem Druck nicht mehr standhalten bzw. die erhaltenen Gratifikationen in Relation zum persönlichen Einsatz als zu gering erlebt, für den ist Burnout ein Stress-Symptom, mit dem sich die erlebten Beeinträchtigungen plausibel erklären lassen.

Unklarheiten bzgl. der Arbeitsplatzaufgaben und der Ziele sowie konfliktreiche Interaktionen am Arbeitsplatz stellen ein Risikomerkmal dar, wie auch geringe Wertschätzung und berufliche Gratifikationskrisen. Schließlich ist auch Arbeitsplatzunsicherheit ein relevanter Burnout-Risikofaktor.

Nicht zuletzt ist der Krankenstatus von vielfältigen sozialen Ursachen abhängig, mit Rückwirkung auf das soziale Umfeld. So gibt es eine Beziehung zwischen Betriebsklima und Arbeitsunfähigkeitsraten. Es ist naheliegend anzunehmen, dass ein Mitarbeiter, der sich vom Chef oder seinen Kollegen schikaniert, missachtet, degradiert oder ausgenutzt fühlt, bei entsprechenden Rückzugstendenzen in seiner Persönlichkeit den Ausweg suchen wird, vom Arbeitsplatz fernzubleiben. Dazu genügen u. U. beliebige körperliche oder psychische Klagen, um eine Krankschreibung zu erreichen. In vieler Hinsicht wird diese „Konsumentenhaltung“ gegenüber Gesundheitsdiensten oft kritisiert. Schließlich darf auch der Beitrag von Medienmeinungen und Einstellungen der gesamten Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Gibt es doch immer wieder Diagnosen, die in den Medienfokus rücken, sei es die Depression, sei es das Trauma oder auch Burnout und so zu einer verstärkten Selbstbeobachtung bis hin zu einer Hypochondrisierung bei dem Einzelnen führen.

Die negativen Folgen einer Diagnosestellung insbesondere bei einer psychischen Erkrankung können dazu führen, dass die gesundheitlichen Probleme aggraviert werden, Betroffene sich zunehmend Sorgen um ihren Gesundheitszustand machen und damit Fähigkeiten der Selbstheilung/ Resilienz eher gelähmt werden.

Last but not least kann es zu überflüssigen oder gar schädlichen Behandlungen führen. Gerade unter dem Etikett der psychischen Erkrankungen finden sich in unserer Berufswelt zunehmend Frühberentungen und auch heute spielen noch soziale Stigmatisierungen eine Rolle. Dieses Pro und Kontra gilt bei jeder Diagnose, seien es Rückenschmerzen oder Burnout.

Zufriedenheit im ärztlichen Beruf

Zufrieden oder resigniert mit ihrem Beruf sind 78 %aller deutschen Vertragsärzte, 58 %würden kein Vertragsarzt mehr werden und 37 % würden sogar ihren Beruf heute nicht mehr ergreifen [7]. Die Unzufriedenheit im Arztberuf hat vielfältige Gründe. Dazu gehören in absteigender Häufigkeit:
– das Arzt-Bild in den öffentlichen Medien
– fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten
– unzureichendes Netz eigener sozialer Sicherheit
– Arzt-Bild in den Fachmedien
– Arzt-Bild in der Gesellschaft

Wird dagegen gefragt, was zu mehr Zufriedenheit in dem Beruf führen würde, sind dies:
– adäquate Zahlung und Prämien
– ein gutes Arbeitsklima
– Fortbildungsmöglichkeiten
– Unterstützung von Kollegen und durch Supervision
– funktionierende Kommunikation
– Arbeitsplatzsicherheit

Selbstzuschreibung

Menschen, die sich als besonders engagiert einschätzen, äußern z. B. „…ich hatte zu viele Aufgaben, andere sind krankgeworden, ich habe alles gemacht, hatte dazu noch einen Nebenjob, jetzt sind meine Batterien leer…“. So kann sich jeder Betroffene und in diesem Sinne auch Leidende selbst diagnostisch und ohne, dass ihn Experten durch Sachargumente davon abbringen können, mit dem Phänomen identifizieren.

Auf der anderen Seite ist es ein „Krankheitsmodell“, das das individuelle Selbstwertgefühl eher stabilisiert, während dies sonst bei psychischen Erkrankungen zusätzlich labilisiert werden kann. Oft ist es mit der Haltung verbunden „mich trifft keine Schuld, ich habe zu viel geleistet, die Umstände waren gegen mich, vom Vorgesetzten oder von Kollegen wurde ich außerdem noch ausgenutzt…“ So sehen sich die Betroffenen als Opfer ihrer verzweifelten Bemühung, den überhöhten und ständig wachsenden Anforderungen eines sich verändernden Berufslebens gerecht zu werden. Die Zuschreibung Burnout beinhaltet nicht nur das Eingeständnis des eigenen Zusammenbruchs, sondern auch eine mehr oder weniger versteckte Anklage gegen eine krankmachende und als unmenschlich verstandene Berufswelt oder Gesellschaft [8].

Die entscheidende Ausgangssituation ist wie der einzelne Mensch sich selbst wahrnimmt und einschätzt, sowie sein Inanspruchnahmeverhalten, sei es gegenüber Beratungsstellen oder medizinischen Einrichtungen. Individuen, die sich durch ein stabiles Selbstwertgefühl, innere Kontrollüberzeugungen (im Sinne von Zutrauen in eigene Fähigkeiten) und hoheWiderstandsfähigkeit (Resilienz) auszeichnen, sind vergleichsweise Stress- und Burnout-resistent. Demgegenüber konnten externale Kontrollüberzeugungen im Sinne eines Sich-Ausgeliefertfühlens (Neurotizismus, Ängstlichkeit, Feindseligkeit, Depressivität, geringe Selbstsicherheit und Vulnerabilität) sowie familiäre Belastung mit psychischen Störungen als Burnout-Risikofaktoren identifiziert werden.

Operationalisierung: Wie lässt sich Burnout messen?

Entsprechend aktuellen diagnostischen Standards lassen sich weder die Symptomatik noch ihre Ursachen zusammenfassend reliabel operationalisieren. Im Gesundheitssurvey für Erwachsene, DEGS des Robert- Koch-Instituts, wird nachgefragt, ob ein Burnout-Syndrom von einem Arzt oder Psychotherapeuten festgestellt wurde. 4,2%der Befragten gaben an, dass ein Burnout-Syndrom bestand [9].

In verschiedenen Untersuchungen waren Burnout-Betroffene sowohl psychologisch als auch neurophysiologisch heterogen. Es finden sich sowohl ehemals engagiert kompetente sowie von Berufsbeginn an überforderte Personen gegenüber.

Maslach et al. [10] bemühten sich um eine Definition des Phänomens, ausgehend von der Frage, wie es in sozialengagierten Berufen gelingen kann, Balance zwischen Mitgefühl und professioneller Distanz zu halten. So identifizierten sie als die zentralen Dimensionen emotionale Erschöpfung, reduzierte Leistungsfähigkeit und Depersonalisation, d. h. eine distanzierte Haltung zu Patienten/ Klienten (diese weniger als Menschen, sondern mehr als unpersönliche „Objekte“ wahrzunehmen).

Von dieser Arbeitsgruppe wurde das Messinstrument MBI, Maslach- Burnout-Inventar entwickelt, das bis heute am weitesten verbreitete Burnout-Messinstrument. Es gibt z. B. in der Skala emotionale Erschöpfung ein Item „ich fühle mich von meiner Arbeit ausgelaugt“. Dies ist auf einer Sechser-Skalierung zu beantworten zwischen 1 „einige Male im Jahr“ bis 6 „täglich“. Auch wenn der MBI inzwischen umfangreich bei verschiedenen Berufsgruppen eingesetzt wurde, ließ sich kein exakter Cut-off-Wert identifizieren, um eine Differenzierung im Sinne von Gesund versus Krank vorzunehmen. So ist es möglich, einen individuellen Skalenwert entsprechend verschiedenen Vergleichsgruppen zuzuordnen, ohne dass aber eine klinische Wertung möglich ist. Bei verschiedensten befragten Kollektiven, wie z. B. Ärzte, Lehrer, Manager, fanden sich jeweils 20–30% Burnout- Gefährdete, andererseits ist es nicht möglich, keine Punkte auf der Burnout-Skala zu haben.

In Untersuchung mit dem MBI-Fragebogen korrelierten die erhobenen Daten relativ hoch (0,3–0,7) mit Stresserleben und Arbeitszufriedenheit, mit Depression bzw. Depressivität und mit neurotischen Persönlichkeitsmerkmalen bzw. Neurotizismus (Ängstlichkeit, emotionale Labilität). Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse bleibt zu betonten, dass Burnout keine eigene/abgegrenzte Kategorie abbildet. Auch das oft damit in Zusammenhang gebrachte Ideal oder auch als positives Selbstverständnis geäußerte „idealistischhochengagiert“ und sich dabei im Beruf „verzehrend“ wird mit solchen Ergebnissen deutlich widerlegt, aber in der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen“ [11].

In anderen Konzepten ginge es mehr um die Art der Bewältigung von beruflichen Belastungen von gesunden Personen. Andere Arbeitsgruppen untersuchten Burnout als Vorstufe oder Variante von psychosomatischen Störungen. Von einer niederländischen Arbeitsgruppe wird Burnout als arbeitsbedingte Form der Neurasthenie aufgeführt. Andere Arbeitsgruppen versuchen arbeitsbezogenes Engagement, Problembewältigungsstrategien und berufsbegleitende Emotionen abzubilden. Keinem dieser Konstrukte ist es gelungen, ein umschriebenes krankheitswertiges Phänomen zu erfassen (zur Übersicht siehe [11]).

Mit all diesen Ansätzen lässt sich schließen, dass Burnout ein komplexes Phänomen ist, dem problematische Interaktion zwischen Individuum und Arbeitsplatzmerkmalen zugrunde liegen. Nach Ergebnissen des BMI-Fragebogens haben jüngere Personen höhere Werte als ältere und unverheiratete höhere als verheiratete Menschen im Sinne von stärkerer Belastung.

Burnout-Verlauf und Behandlung

Burnout wurde ursprünglich als arbeitsbezogenes Syndrom mit einer vielfältigen psychischen Symptomatik beschrieben, ohne dass nach ICD10 oder DSM4 eine Krankheitsdiagnose besteht. Jedoch kann bei chronischem Verlauf am Ende auch eine psychische Erkrankung stehen, wie z. B. eine Depression, eine Angst- oder Panikstörung oder eine Suchterkrankung. Von verschiedenen Autoren wird die prozesshafte Entwicklung über mehrere Phasen beschrieben bis hin zu einem Zustand mit anhaltender Erschöpfung, Überdruss, Leistungsinsuffizienz und Resignation. Dabei geht es nicht nur um ein Problem der individuellen Bewältigung oder Anpassung, sondern es werden auch die gesellschaftlichen Bedingungen ins Spiel gebracht. Diese werden oft in dem Kontext der modernen Leistungs- und zunehmenden Informationsgesellschaft dargestellt, in welcher der ständige Versuch, alles zu wissen, zu können und zu beherrschen zu einer kollektiven Ermüdung führt, Han [12] spricht in seinem Buch von der „Müdigkeitsgesellschaft“.

Die Unklarheit des Burnout-Syndroms zeigt sich auch in seiner angenommenen Entwicklung. Diese reicht von einem 2- bis 10-Phasen- Modell. Demnach beginnt Burnout entweder mit idealistischer Begeisterung oder aber mit Berufsstress, Überforderungserleben und/oder chronischer Müdigkeit. Die zwei Stufen beschreiben ein empfindendes und ein empfindungsloses Stadium. Hillert und Marwitz [13] nennen ein Zehn-Phasen-Stadium:
1. Freundlichkeit und Idealismus
2. Überforderung
3. Geringer werdende Freundlichkeit
4. Schuldgefühle
5. Vermehrte Anstrengung
6. Erfolglosigkeit
7. Hilflosigkeit
8. Hoffnungslosigkeit
9. Erschöpfung, Distanzierung,Wut
10.Burnout

In welchen Phasen Burnout erfolgt, ist letztendlich nebensächlich.Wichtig ist dasWissenumdie anfängliche Hyperaktivität, welche wenige Wochen bis Jahre andauern kann. Dafür lässt sich beispielshaft ausführen, dass Betroffene gerade in solchen Phasen auch noch neue Tätigkeiten annehmen. Möglichst viel arbeiten, oft von zu Hause aus, was mit zunehmender Onlinevernetzung auch ein zunehmendes Risikopotential in sich birgt. Diese Hyperaktivität kann in dem Gefühl, unentbehrlich zu sein, anfangs einen hohen Benefit enthalten. Dieses „ohne-mich-geht es-nicht-Gefühl“ korrespondiert nicht selten mit einem labilen Selbstwertgefühl neben Stimmungsschwankungen. Es werden Kompensationen gesucht, die oftmals im Materiellen liegen, d. h. die Einnahmenseite wird gesteigert, aber genauso auch die Ausgabenseite. Die „aufopfernde Hyperaktivität“ kann dem Arbeitsgeber durch eine hohe Leistungsausbeute bei anfänglichem Burnout nutzen. Letztlich dient sie damit dem Gesundheitssystem, wofür Millionen unbezahlter Überstunden in deutschen Kliniken sprechen, die jedes Jahr aufgebaut werden [14, 15].

In der Behandlung von Burnout [5] zeigt sich, dass die Aktivierung der eigenen Ressourcen stärker gegen Burnout wirkt als Maßnahmen wie z. B. Beratung. Oft hat das Syndrom eine längere Vorgeschichte, weil die Symptome anfangs nicht wahrgenommen oder verleugnet werden.

Nicht selten sind es die somatischenSymptome, die zu einer Abklärungführen. Therapie und Coachingmaßnahmenunterscheiden sich von denPräventionsmaßnahmen dann, wennBurnout fortgeschritten ist. Sollte bereitseine Suchtproblematik eingetretensein, ist eine anfänglich stationäre Therapie ratsam und erst danachsollte ambulant weiterbehandelt werden. In der wissenschaftlichen Literatur kommt häufig die Verhaltenstherapie zur Anwendung bei Burnout. Allerdings lässt sich keine Methodenpräferenzexakt definieren,d. h. es kommen sowohl verhaltenstherapeutische als auch psychodynamische Verfahren zur Anwendung(_ Abb. 2).

In einem ersten Schritt geht es immer darum, was die Betroffenen selbst umsetzen können, danach steht dieFrage, wer braucht psychotherapeutische Hilfe zur Umsetzung und erst in einem dritten Schritt folgt die Entscheidungzu einer Psychotherapie.

Burnout-Prävention

In die Burnout Prävention muss der Körper einbezogen werden, d. h.sich körperlich weder unter- noch überfordern, Bewegung und Sporttreiben, genügend Schlaf und gesunde Ernährung. Bergner [5] stellt eine Liste präventiver Maßnahmen vor.

1. Stresstoleranz (Veränderungdes Stressempfindens)
Burnout ist als Stresserkrankung definiert, dennoch reichen übliche Stressverminderungsprogramme nicht aus. Erklärt wird dies in der Kombination von Unzufriedenheit im Beruf mit Stresserleben. Erst wenn beides zusammen kommt, steigt das Burnout Risiko stark an. Es geht darum konkre therauszuarbeiten, welche Ursachen die Unzufriedenheit hat.

2. Zeitsouveränität (Veränderungim Umgang mit Zeitnot)
Die Zeitnot ist ein Hauptindikator, der von den Betroffenen oft vorrangig angegeben wird. Dieses Thema zu bearbeiten, heißt auch, über übliche Zeitmanagementprogramme hinaus zu gehen, da Ärzte oft dicht getaktete wichtige Termine wie beispielsweise Patiententermine in Ambulanzen und Praxen haben. D. h. Ärzte brauchen ein funktionierendes Terminmanagement, das die typische Aufgabenstrukturierung berücksichtigt:
– Was muss ich sofort tun, waskann ich delegieren?
– Was lege ich auf einen Termin?
– Was lasse ich ganz bleiben, was verändere ich?

Darüber hinaus geht die Frage nachden Lebenszielen:
– Wofür möchte ich mir Zeit nehmen?
– In welcher Zeit meines Lebens befinde ich mich?
– Gehe ich mit genügend Selbstrespekt mit meiner Zeit um, bringe ich der Zeit anderer den notwendigenRespekt gegenüber?

3. Aufbau von Situationsttoleranzim Sinne von Abbauen unerträglicher Situationen
Bergner [5] differenziert danebenaufbauende und erkennende Komponenten:
– Eine sog. „Dyadenkompetenz“, d. h. Steigerung der interpersonellen Kompetenz. Burnout tritt gehäuft in Berufen auf, die mit Belastungen, Leiden und Erwartungen eines Gegenübers zu tun haben, neben den Erwartungen an sich selbst. So sind es nebenÄrzten und Therapeuten oder Pflegekräften auch Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter, bei denen intensive Gesprächsinhalte einen Einfluss auf die emotionale Regulationsfähigkeithaben [16]. Burnoutprävention muss sich deshalb auch mit der Verbesserung der Fähigkeit im Umgang mit zwischenmenschlichen Kontakten und der emotionalen Kompetenzbefassen.
– Eigenbestimmtheit stärken, Aufbau der Selbstwirksamkeit und des Selbstbewusstseins
– Aufbau eines konstanten Maßes an persönlicher Zufriedenheit.

Schließlich geht es um die sogenanntenerkennenden Komponenten:
– Rollensicherheit, d. h. erkennen,welche Rolle ich spiele und welche nicht. Bei Ärzten ist die Entscheidung,den Arztberuf zu ergreifen, sehr oft mit einer sehr persönlichen Vorgeschichte verbunden: Dies kann die Vorgabeder Herkunftsfamilie sein, z. B.die Praxis von Vater oder Mutter zu übernehmen, eine gute Abiturnote aus der Perspektive des sozialen Umfeldes sinnvoll zu nutzen oder aus eigener Krankengeschichte. In der Auseinandersetzung mit einem Burnout-Syndrom kann es darum gehen, sich diese inneren und äußeren Konflikte klar zu machen und u. U. im beruflichen Kontext neue Entscheidungen zu treffen.
– Zielerkenntnisse, d. h. das Erkennen der mittel- und langfristigen Ziele. Diese u. U. existenzielle Frage zielt auf das, was ich will und nicht darauf, wie ich es ausfüllen oder leben will. Ziele für sich zu definieren, heißt auch, Erfolg haben zu können und aus dieser Selbstgewissheit und Selbstwirksamkeit heraus innere Stützung und Stärkung zu erfahren. Es ergibt also Sinn, sich Ziele zu setzen und deren Erreichen anzustreben, zu realisieren und auch zu feiern. Dabei ist es wichtig, den Blick umzulenken von immer neuen materiellen Zielen zu dem, was die Motivation war, in den Arztberuf zu gehen. Gerade Ärzte verlieren durch die oft anstrengende und wiederkehrende Routine im Tagesablauf aus dem Blick, sich immer wieder neuen Zielen und Herausforderungen zu stellen. Die Arbeit an der eigenen Zielorientierung kann auch bedeuten, zu entscheiden, welche Tätigkeiten oder bisherige Ziele aufgegeben werden sollten.
– Sinnannäherung, d.h. erkennen, worum es im eigenen Leben geht, sich der Fähigkeit stellen, mit den eigenen Werten, Wünschen, Bedürfnissen und Zielen auseinanderzusetzen und dies im Einklang mit einem sicheren Selbstbild zu leben. Sich der der Sinnfrage zu stellen kann sowohl eine spirituelle Dimension eröffnen, aber auch eine bescheidene Antwort nach sich ziehen. In der Rückschau wird oft deutlich, dass vieles von dem, was zu einem Burnout geführt hat, sinnlos war.

Man sollte nicht auf ein Burnout oder eine Krankheit warten, bis man sich die Zeit nimmt, diese Fragen zu stellen, sondern sehr viel früher und immer wieder mit wichtigen Anderen darüber ins Gespräch gehen.

Selbstfürsorge

Der Weltärztebund verabschiedete in einer überarbeiteten Fassung 2017 die Deklaration von Genf, der der Deutsche Ärztetag sich einstimmig „mit großem Applaus“ angeschlossen hat [17]. Neu und beachtenswert daran ist, dass Ärztinnen und Ärzte auf ihre eigene Gesundheit achten sollen und sich für den Erhalt ihrer Fähigkeiten einsetzen sollen. Im Folgenden ein Auszug aus der Deklaration:
– Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschheit zu stellen.
– Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten werden mein oberstes Anliegen sein.
– Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren.
– Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichen Leben wahren.
– Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung oder Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.

Dieser letzte Punkt bekommt aktuell vor dem Hintergrund weltpolitischer Krisen verbunden mit Migration und Flucht von Menschen besondere Bedeutung. Der folgende Link weist in der deutschen Übersetzung durch die Bundesärztekammer auf den vollständigen Text hin (https://www. bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/pdf-Ordner/ International/Deklaration_von_Genf _DE_2017.pdf).

Der bemerkenswerte Punkt hinsichtlich der ärztlichen Selbstfürsorge lautet:
– Ich werde auf meine eigene Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.

Dieser Passus ist in der 2017 revidierten Fassung der Deklaration von Genf neu und weist hin auf ein deutlich mehr ins Bewusstsein gerücktes Spannungsfeld zwischen physischer und mentaler Selbstfürsorge, Lebensqualität und hochprofessionellem Handeln. Möglicherweise sind wir auf diese Doppelaufgabe, d. h. Behandlung unserer Patientinnen und Patienten auf höchstem Niveau, aber auch die eigene Gesundheit und unser Wohlergehen im Blick zu haben, noch nicht hinreichend gerüstet.

Im beruflichen Umfeld prägen Komplexität, Beschleunigung und Aufgabenverdichtung zunehmend die Arbeitswelt jedes Einzelnen und haben Auswirkungen auf unseren persönlichen Alltag, sodass nicht wenige Ärztinnen und Ärzte Überforderung und „Arbeit am Limit“ erleben. Schon im Studium ist Burnout und Arbeitsstörung ein relevantes Thema in Abhängigkeit vom erlebten Zeitdruck [18]. Gleichzeitig lässt sich im Studium beobachten, dass Empathie zurückgeht, was mit einer hohen Studienbelastung und fehlenden ärztlichen Vorbildern begründet wird. Ärztinnen und Ärzten kann es schwerfallen, Gefühle wahrzunehmen, zu beschreiben und erst recht aus negativen Gedankenspiralen auszusteigen. Wie in allen Berufen mit sozialer Zuwendung sind sie gefährdet, sich emotional zu erschöpfen und letztlich in Abwehrstrategien zu gehen, die den Kontakt zu ihren Patienten erschweren oder sogar verlieren lassen. Es kann geschehen, dass die einzig verbleibende Strategie in Ironie und Sarkasmus liegt oder dass selbstschädigende Belastungen durch Alkohol kompensiert werden. Diese Maladaptation sollte Ärzte und Ärztinnen „in besonderer Weise sensibilisieren und motivieren, Techniken zu erwerben und Haltungen zu kultivieren, die dem entgegenwirken“ [17].

Zu dieser Art der Kompensation gehört es, Fähigkeiten der Resilienz zu kultivieren. Resilienz wird in der Psychologie als eine ArtWiderstandsfähigkeit verstanden. Methoden der Achtsamkeit und Meditation können hilfreich sein, wie z. B. Tang [19] bezogen auf die Stress-Reduktion und Gesundheits-Förderung nachweisen konnte. Kabat-Zinn hat in den 80er Jahren achtsamkeitsbasierte Übungen für Behandlung der Hypertonie und von chronischem Schmerz eingeführt [20]. Im Rahmen der neurowissenschaftlichen Forschung wurden seit den 90er Jahren bei Menschen die regelmäßig meditierten Veränderungen im Gehirn belegt, verbunden mit positivem Einfluss auf Alternsprozesse des Gehirns [21].

Die Konsequenz dieses Wissen für Ärztinnen und Ärzte sollte sein, sich den beschriebenen Themen der Selbstwahrnehmung und Selbstfür sorge zu öffnen. Schon im Studium oder später in der Weiter- und Fortbildung – auch in Qualitätszirkeln – sollte dieses Thema im Sinne eines „persönlichen Werkzeugkastens“ Beachtung finden.

Zusammenfassung

Wir leben in einer Zeit der Arbeitsverdichtung und der Informationsüberflutung bei gleichzeitiger Vereinzelung des Individuums. Auf diesem Boden entstehen Begrifflichkeiten jenseits von Krankheitsdiagnosen, wie z. B. das Burnout-Syndrom. In der ICD10-Klassifikation ist dieses als sogenannte Zusatz-Diagnose eingeordnet. Damit werden Faktoren beschrieben, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten führen. Z73 beschreibt ein breites Spektrum von Problemen, die verbunden sind mit Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung und Z73.0 bezeichnet ein Erschöpfungssyndrom (Burnout-Syndrom), in dem sich Überlastung und Überforderung äußert. Umgangssprachlich ist Burn-out inzwischen ein viel genutzter, wie manchmal in Institutionen oder auch von einigen Autoren bemängelt, ein missbrauchter Begriff.

In der Literatur wird das Thema bei Ärzten und Therapeuten im Zusammenhang mit beruflichen Belastungen und Überforderungen diskutiert, etwa durch schwer kranke Patienten oder solche, die fordernd aggressiv auftreten oder nicht kooperieren.

Dieser Beitrag soll zu einer Begriffsklärung beitragen und jenen, die sich in einem solchen Spannungsfeld erleben, auch Strategien zur Prävention an die Hand geben. So erhöhen z. B. Supervision und Fortbildung nicht nur die Kompetenz, sondern dienen auch der emotionalen Entlastung und werden daher als präventive Maßnahmen gegen Burnout beschrieben. Entsprechend der Genfer Deklaration (2017) sollte neben einer hohen Qualität ärztlichen Handeln auch die Lebensqualität und dasWohlergehen der Ärzte und Ärztinnen gefordert und gefördert werden.

Schlüsselwörter: Burnout, Symptomatik, Verlauf, Behandlung, Prävention, Frauenärztinnen und Frauenärzte

Korrespondenzadresse:

Prof. apl. Dr. rer. nat. Dr. med. Mechthild Neises
Lemierser Berg 119
52074 Aachen
Tel.: +49 (0)241 90078507
info@mechthild-neises.de
www.mechthild-neises.de

Slide Ärzte und Ärztinnen zwischen Burnout und Selbstfürsorge Gyne 04/2019 2

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