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DGPFG-Rundbrief
2/2016 Nr. 52

Dezember 2016

Liebe Mitglieder der DGPFG,

haben Sie nicht auch das Gefühl, dass auf unserer Seele herumgeTRUMPelt wird?

Dass ein Populist einen faktenlosen Wahlkampf gewinnt, sollte uns mehr als nachdenklich stimmen. Die von der Globalisierung vorgegaukelte, aber selten mögliche „Verfügbarkeit“ eines sorgenfreien Lebens erzeugt Gier, Kränkung und am Ende ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Dies ist der Nährboden für fast alle Zeitphänomene wie auch den Erfolg des Populismus.

Was können wir Psychosomatiker tun?

Der bekannte Freiburger Ethiker Giovanni Maio schreibt in seinem Buch, Medizin ohne Maß: „Das Glück liegt nicht in unserer Hand, sondern in unserer Einstellung.“ …und damit können wir insbesondere mit unseren Patientinnen immer wieder arbeiten. Die biopsychosozial begleitete Elternschaft ist kein Garant aber Voraussetzung für eine Entwicklung zum selbstbewussten, kohärenten Menschen, der weniger Anfälligkeit zeigt für Extremismus, welcher Art auch immer.

Aber auch die ganz allgemeine psychosomatische Begleitung von Frauen in Ihren Lebensübergängen von der Menarche bis zur Menopause und in ihren Krisenzeiten, sei es aus biologischen, psychischen oder sozialen Gründen, hat aus meiner Sicht protektive Effekte.

Indem wir eine ehrliche und ganzheitliche Medizin anbieten, welche sich nicht dem Diktat von Ökonomie und Organisation unterordnet, leisten wir viel für den „Seelenfrieden“ – auch den unseren.

In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie nach Lektüre unseres Rundbriefes auch zu dem Schluss kommen, dass wir in der DGPFG und im Verbund mit den kooperierenden Verbänden gute Arbeit leisten. Vorstand und Beirat sind fleißig und haben viel geschafft. Wir sind auf gutem Weg – sind zunehmend bedeutsam, versuchen klug und evident zu entscheiden und öffnen unsere Grenzen, und damit stehen wir auch politisch auf der aus meiner Sicht richtigen Seite. Ich hoffe, viele von Ihnen sehen das auch so.

In diesem Sinne grüßt Sie herzlich und in freudiger Erwartung auf ein Wiedersehen in Dresden

Dr. Wolf Lütje
Präsident der DGPFG

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Inhaltsverzeichnis

Seite 3
Einladung zur Mitgliederversammlung


Seite 4
Klausurtagung im September 2016


Seite 5
Gewalt gegen Frauen


Seite 6
Die neue Homepage


Seite 7
DGPFG-Kongress 2017


Seite 8
Nationales Zentrum Frühe Hilfen


Seite 9
Kooperationen – Informationen und Stand der Dinge


Seite 10
Das Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland BKiD


Seite 10
Perspektiven der psychosozialen Kinderwunschberatung in Deutschland – Tagung in Hamburg


Seite 11
Initiative Klug entscheiden


Seite 12
Kongressberichte


Seite 12
61. Kongress der DGGG 2016


Seite 13
DGPFG-Sitzung zu Migrationsthemen auf der DGGG-Tagung 2016


Seite 14
23. Jahrestagung des AKF


Seite 15
Fachtag „Gelingende Geburtshilfe“


Seite 16
Studie: Deutschland hat weniger Sex


Seite 17
Buchtipps


Seite 17
Vertrauen in die natürliche Geburt


Seite 17
Schönheitsmedizin


Seite 18
Impressum

Artikel des Monats Juni 2016

Artikel des Monats Juni 2016

vorgestellt von Prof. Dr. med. Matthias David

Smarandache A et al. Predictors of a negative labour and birth experience based on a national survey of Canadian women.
BMC Pregnancy and Childbirth (2016) 16:114 DOI 10.1186/s12884-016-0903-2

Die vorliegende Studie basiert auf Telefoninterviews, wobei mit den meisten Studienteilnehmerinnen 5 bis 9 Monate postpartum gesprochen wurde. Es wurden 300 Fragen rund um den Zeitraum Schwangerschaft, Geburt und Postpartalperiode beantwortet. Eine negative Geburtserfahrung hat deutlichen Einfluss auf das Wohlbefinden und weitere Entscheidungen der Mutter im Hinblick auf nachfolgende Schwangerschaften. Von den 6.421 befragten kanadischen Frauen berichteten 9,3 % über negative Geburtserfahrungen. Faktoren mit signifikant negativem Einfluss waren höheres Lebensalter, Gewalterfahrung in den zwei Jahren vor der Entbindung, selbst eingeschätzter schlechter Gesundheitsstatus, ungewollte Schwangerschaft, Entbindung per Kaiserschnitt, Verlegung des Kindes in eine Kinderklinik bzw. eine neonatologische Intensivstation und die Teilnahme an einem Geburtsvorbereitungskurs.

Eine negative Geburtserfahrung kann sich, so zeigen andere Studien, die in der Arbeit zitiert werden, auf die Gesundheit der betroffenen Frau und die Entwicklung ihrer Kinder ungünstig auswirken. Frauen mit negativen Geburtserfahrungen wiesen ein längeres Intervall bis zur nächsten Schwangerschaft bzw. Geburt gegenüber Frauen mit positiver Geburtserfahrung auf.

Die Ergebnisse der hier dargestellten Studie sind wichtig für die Erstellung von Empfehlungen für Präventions- und Interventionsprogramme rund um die Schwangerschaft – dies gilt u. a. angesichts der steigenden Schwangerschaftsrate (auch in Kanada).

Die Risikofaktoren sind identifiziert. Die Autoren meinen, dass nun die Fragen, wie und warum diese die Geburtserfahrung negativ beeinflussen, zu beantworten sind. Dafür sind nach Meinung der kanadischen Autorenteams aus Toronto vor allem qualitative Methoden (ausführliche leitfadengestützte Interviews mit den Müttern) gut geeignet.

Prof. Dr. med. Matthias David

Gyne 05/2016 – Psychosomatische Aspekte der Verhütung

Gyne 05/2016
Psychosomatische Aspekte der Verhütung

Autorin: Dr. med. Dorothea Schuster

 

Bei Einführung der Pille vor weit über 50 Jahren setzte eine rege Forschungstätigkeit zu psychosomatischen Aspekten der neuen Kontrazeption ein: erhoffte und befürchtete Einflüsse der Pille auf Körperwahrnehmung, Sexualität, Partnerschaft und Fertilität wurden detailliert untersucht und beschrieben.

Obwohl Antikonzeptiva seitdem quantitativ und qualitativ eine überwältigende Entwicklung und Differenzierung erfahren haben,  ist die Erforschung von ihren psychosomatischen Aspekten nicht wesentlich weitergegangen;  so existieren beispielsweise zu Auswirkungen der neuen Langzeitmethoden (Hormonimplantate, Langzyklus, Hormonspirale) auf Sexualität, Partnerschaft und Körperwahrnehmung kaum Untersuchungen.

Die in den früheren Arbeiten ursprünglich beschriebenen psychosomatischen Aspekte sind jedoch auch bei der Anwendung  heutiger Antikonzeptiva weiter präsent – wahrnehmbar sind sie  in der Verhütungsberatung mit dem Wissen darum und entsprechender Aufmerksamkeit. Diese setzt sowohl Zeit für die Beratung  als auch Sensibilität und respektvolle Neugier voraus. Die Beachtung der psychosomatischen Aspekte von Kontrazeption und ihre Einbeziehung in die Verhütungsberatung kann die Zufriedenheit sowohl für die ratsuchenden Frauen und Paare als auch für die beratenden ÄrztInnen  deutlich steigern und ebenso die Effektivität der Verhütung verbessern.

In den vergangenen Monaten hat die Pille mehrfach unverhoffte Aufmerksamkeit erhalten: Zum Einen durch die rezeptfreie Freigabe der „Pille danach“ und die im Vorfeld geführten kontroversen, heftig und teils auch ideologisch gefärbten Diskussionen um das PRO und CONTRA, zum Anderen durch öffentlichkeitswirksame Berichte über juristische Klagen von jungen Frau nach  erfolgten Lungenembolien, ausgelöst durch Thrombose-Ereignisse  unter  der Pilleneinnahme [1–3].

Nicht nur in der gynäkologischen Fachliteratur sondern auch in der allgemeinen Presse und  allen Medien ist dadurch das Bewusstsein für die Pille als potentes Medikament mit Wirkungen und Nebenwirkungen nach langer Zeit wieder einmal  deutlich gestiegen.

Das bedeutet Chance und Risiko zugleich.

Die Anforderungen und Richtlinien zur verbesserten Aufklärung vor der erstmaligen  und auch bei wiederholter Pillenverschreibung sind in den letzten Monaten konkretisiert und deutlich verschärft worden [4, 5]; eine  neue S3-Leitlinie der AWMF zur Kontrazeption ist in Arbeit und soll bis Ende 2016 verabschiedet werden. In der gynäkologischen Sprechstunde ist die Verunsicherung spürbar:  Die Nachfragen der Frauen zur Pille als potentielles oder aktuelles Risiko haben sich erheblich verstärkt. Auch die Fragen nach hormonfreien Verhütungsalternativen tauchen deutlich häufiger auf als zuvor – oft verbunden mit dem Wunsch nach ausführlicher Beratung und persönlicher Stellungnahme des Arztes/der Ärztin zum Risiko der Hormone.

Unter dem Druck auf ärztlicher Seite, sich vor möglichen juristischen Konsequenzen jetzt durch eine detaillierte  (möglichst schriftliche) Aufklärung mit Gegenzeichnung der Patientin abzusichern  und mit dem Blick auf die zusätzlich notwendige und meist aufwendige „Schadensbegrenzung“ durch neutrale Aufklärung  und Angstabbau  besteht die Gefahr,  die Pille nun vorrangig als Risiko zu thematisieren.  Die Compliance der Frau zur Einnahme kann damit möglicherweise in Frage gestellt  werden und andere wichtige Aspekte der Verhütung  völlig aus dem Blick verloren gehen [6].

Vor allem aber  geraten sowohl für die Frau mit ihrem Verhütungsanliegen als auch für den beratenden Frauenarzt/die Frauenärztin  die positiven Aspekte einer Verhütungsberatung, die als Ziel doch eigentlich angstfrei und lustvoll erlebte Sexualität hat,  aus dem Blickfeld.

Dabei ist die Verhütungsberatung neben der gynäkologischen Krebsfrüherkennung, der Mutterschaftsvorsorge und dem eher begrenzten Spektrum der kurativen Behandlungen ein Hauptteil unserer täglichen Arbeit in der frauenärztlichen Praxis und ein nach wie vor schönes und abwechslungsreiches Arbeitsfeld – sofern man die Frau in ihrer individuellen  Persönlichkeit wahrnimmt und im lebenslangen Spannungsfeld „Fruchtbarkeit“ über lange Zeit hin begleitet. Dafür ist das Wissen um psychosomatische Zusammenhänge und Hintergründe hilfreich, ihre Berücksichtigung und ihre Einbeziehung in die Beratung wichtig [7, 8].

Fallbeispiel

Vor mir sitzt Ellena, eine 33jährige junge Frau; sie ist schon lange meine Patientin. Vor drei Jahren gab es bereits ein intensives Gespräch zur Verhütung, als sie – ausgelöst durch verschiedene Nebenwirkungen wie Brustspannen, Zwischenblutungen und Kopfschmerzen in der Pillenpause – ein Präparatewechsel wünschte. Meine damalige  Fragehinsichtlich ihrer Familienplanung beantwortete sie positiv mit dem grundsätzlichen Wunsch nach Kindern, aber aktuell sei das aufgrund der noch nicht ausreichend gefestigten Partnerschaft mit dem etwas jüngeren Freund für beide noch kein Thema.

Heute berichtet sie, dass sie im  vergangenen Jahr die Pille einfach mal abgesetzt habe, da „die vielen Hormone über die langen Jahre doch nicht so gut sind, schließlich nehme ich   schon seit meinem  16. Lebensjahr die Pille…“ Ellena fand es in der Folge auch spannend, den Zyklus mit seinen körperlich spürbaren Veränderungen zum vermuteten Zeitpunkt des Eisprungs  zu beobachten und wunderte sich darüber, dass die Blutung auch ohne Pille weiter regelmäßig kam.  Auf meine Frage nach dem Grund der nun kürzlich wieder begonnenen Pilleneinnahme gab sie ihre große Angst vor einer Schwangerschaft an; so richtig sicher habe sie sich mit dem Kondom doch nicht gefühlt. Denn auch jetzt habe sie ganz sicher noch keinen Kinderwunsch. Auf meine weitere Frage, was denn für diesen nötig sei, wenn sie doch überhaupt Kinder haben möchte, kam die Antwort:  „Ich höre es noch nicht ticken“… ein Satz, den ich so wörtlich oder ähnlich nicht zum ersten Mal in Gesprächen zur Familienplanung höre.

Zur Pilleneinnahme war sie weiter im Zweifel, ob diese die richtige Verhütung für sie sei; aber die aufgezeigten Alternativen wie Nuva-Ring oder IUD fanden auch nicht mehr Akzeptanz hinsichtlich der möglichen Verträglichkeit als die Pille, bei der sie nun doch vorläufig bleiben wollte. 

So bin ich gespannt auf das nächste Jahr, wenn bei der Krebsfrüherkennungsuntersuchung mit Sicherheit das gleiche Thema „Verhütung: JA  oder NEIN, WIE und WANN nicht mehr?“ erneut zur Sprache kommt. 

Das Konzept vom ambivalenten Kinderwunsch liegt dem psychosomatischen Verständnis vieler Vorgänge im Spannungsfeld der Fruchtbarkeit zugrunde [9, 10]. Gemeint ist damit ein Ambivalenzkonflikt zwischen der erhofften Bereicherung der eigenen Identität durch ein Kind, dem Zugewinn an Kompetenz, Lebenserfahrung und Selbstbestätigung einerseits und der Aufgabe von Autonomie und eigener Freiheit, der Zunahme von Abhängigkeit und regressiven Bedürfnissen andererseits.

Diese Ambivalenz tritt nicht erst beim Kinderwunsch, bei der Erwartung einer  Schwangerschaft oder mit ihrem Eintritt auf, sondern kann  sich bereits in der Familienplanung bemerkbar machen, sie kann sich ebenso in der Schwangerschaft und im Wochenbett fortsetzen und bis zu Störungen mit Krankheitswert führen.

Mögliche Erscheinungsformen des Ambivalenzkonfliktes bei der Verhütung sind:

  • häufige Verhütungsfehler ( z.B. Vergessen der Pille)
  • Unverträglichkeit  verschiedener Antikonzeptiva
  • Unzufriedenheit mit allen Kontrazeptiva
  • wechselnde Nebenwirkungen auch bei sehr unterschiedlichen kontrazeptiven Methoden

Mit der Einführung der „Pille“ vor nunmehr fast 60 Jahren setzte eine rege psychosomatische Forschungstätigkeit zur Verhütung ein, die hauptsächlich von Psychiatern geleistet wurde und sich vorrangig mit den psychosexuellen Auswirkungen der Pille beschäftigte [11–13].

Interessant ist ein Blick zurück in diese Arbeiten der 60er und 70er Jahre nicht nur deshalb, weil es seitdem kaum weitere Forschungstätigkeit zu psychosomatischen Aspekten der Verhütung gibt; die damals beobachteten Auswirkungen liegen auch nicht weit entfernt von denen, die sich heute unverändert der aufmerksamen Wahrnehmung bieten.

Positive psychische Veränderungen

Der Wegfall der Schwangerschaftsangst  ist auch in der Gegenwart noch die Haupt-motivation zur Anwendung  und ein wichtiges Motiv zur langjährigen Fortführung der Pilleneinnahme; kann sie doch eine nachhaltige  Verbesserung der Sexualität bewirken. Dies gilt für die sexuelle Erlebnisfähigkeit ebenso wie für eine mögliche Steigerung der sexuellen Aktivität und trägt damit auch zur  allgemeinen Zufriedenheit in der Partnerschaft bei [14].

Welche erhebliche Erleichterung und Entlastung von der Schwangerschaftsangst die Einführung der Pille zu Beginn der 60er Jahre darstellte, ist uns heute – angesichts der fast unüberschaubaren Zahl an Pillenpräparaten und vieler weiterer sicherer Verhütungsmittel (IUD, Nuva-Ring, Verhütungspflaster, Depotpräparate)  mit freier Verfügbarkeit für nahezu jedes Lebensalter – sicher nur noch bedingt nachvollziehbar. Spürbar wird diese Angst aber durchaus noch beim Gespräch über das Absetzen der Ovulationshemmer beispielsweise beim Eintritt des Klimakteriums, wenn auch jenseits eines nachvollziehbaren Schwangerschaftsrisikos das „Aufgeben“ dieser sicheren Verhütung mit vielen Bedenken verbunden ist und oft länger vorbereitender Gespräche bedarf.

Ein allgemein verbessertes Wohlbefinden unter der Pille; das dabei nicht selten als Grund für die weiter gewünschte Einnahme angegeben wird, wurde bereits in den früheren Arbeiten  beschrieben und auch danach weiter beobachtet [15].

Angstphänomene

Die Einnahme von Hormonen  bedeutet eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtlichkeit und sexuellen Identität und kann Ängste auslösen. Besonders zu Beginn der Pilleneinnahme  auftretende Stimmungsschwankungen (erhöhte Reizbarkeit, Gleichgültigkeit, Depressivität) können darauf hinweisen. Bereits 1969 wurden diese Symptome von Petersen [13] als „dysphorisch-antriebsschwaches Syndrom“  beschrieben; welches besonders bei unsicherer Identität zu beobachten sei und bis zum Identitätsverlust führen könne [11, 12].

Die gegenwärtig in der Sprechstunde häufiger erlebte Ablehnung hormoneller Verhütungsmethoden – auch bei jahrelanger unkomplizierter Verträglichkeit – kann ebenso wie ihre strikte Ablehnung bei gleichzeitig hohem Anspruch an die Sicherheit der Verhütung als  Hinweis auf unbewusste Ängste vor Fremdbestimmung durch die Hormoneinnahme verstanden werden.

„Ich möchte wieder Herrin über meinen Hormonhaushalt sein“, so das aktuelle Zitat einer 25-jährigen Frau, die sich nach längerer problemloser Pilleneinnahme für die Verhütung mit Kondom entschieden hatte.

Funktionelle Sexualstörung

Hintergrund für Sexualstörungen, besonders für den Libidoverlust, kann die Schwierigkeit sein, durch eine sichere Antikonzeption die Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit zu vollziehen. Verhütung setzt eine bewusste Entscheidung der Anwenderin zu dieser Trennung  voraus; dass die bewusste Kontrolle der Fruchtbarkeit und der Umgang mit den ambivalenten Gefühlen dabei eine Überforderung für nicht wenige Frauen bedeutet, wissen wir. Ebenso ist bekannt, dass die Fähigkeit zur Bewältigung dieses Ambivalenzkonfliktes stark von der persönlichen Lebensgeschichte und psychosexuellen Entwicklung der Frau abhängt, von der individuellen Bedeutung der Fruchtbarkeit für sie und ebenso von der Art und Qualität ihrer Partnerschaft und damit verbunden von der sexuellen Beziehung [11].

Anpassungsstörungen und Somatische Beschwerden

  • Kopfschmerzen, Migräne
  • Gewichtszunahme, Gefühl des Aufgedunsenseins
  • Brustschmerzen und –spannen
  • Übelkeit
  • Kreislaufstörungen

Diese Symptome gehören zu den am meisten geäußerten Nebenwirkungen in der Sprechstunde – und ebenso zu den häufigsten Befürchtungen, die bereits im Vorgespräch vor der Verordnung  von Ovulationshemmern angesprochen werden sollten, nicht zuletzt um auch den „Nocebo-Effekt“ des Beipackzettels oder anderer Informationen, bei jungen Mädchen besonders durch Peer-Groups, zu korrigieren.

Spannend sind einige Hypothesen, die aus den Ergebnissen der früheren Forschungen abgeleitet wurden [11, 12], aber durchaus auch heute noch Gültigkeit haben [16]:

  • Im antikonzeptiven Verhalten spiegelt sich die Einstellung zur Sexualität überhaupt wider
  • Der positive Einfluss der Pille ist eher ihrer Bedeutung zu verdanken als ihrer bio-chemischen Zusammensetzung
  • Die Genese der affektiven Nebenwirkungen ist sowohl endokrin bedingt (mehr Nebenwirkungen bei höherem Gestagenanteil) als auch psychosozial
  • Ein Plazeboeffekt der Hormone besteht hinsichtlich ihrer positiven Wirkungen als auch ihrer Nebenwirkungen

Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten eine enorme Verbesserung und Differenzierung der Verhütungsmittel und -methoden erfolgte , die sich im deutlich verbesserten Verhütungsverhalten niederschlägt [17-20] und eigentlich eine geringere Rate  von Nebenwirkungen erwarten lassen , sind die in den früheren Untersuchungen beschriebenen Auswirkungen auf Psyche, Sexualität und körperliche Nebenwirkungen auch bei stark verringerten Hormondosen nahezu unverändert weiter zu beobachten und spiegeln sich in vielen Gründen für fehlendes oder unsicheres Verhütungsverhalten wider:

Faktoren bei Nichtanwendung [21] 

  • psychosoziale Erreichbarkeit
  • Reale und phantasierte Nebenwirkungen
  • Unterschätzung der Unannehmlichkeit aller Verhütungsmethoden
  • Psychologische Ursachen für Nichtanwendung
    • Bindungswunsch
    • Verleugnung der Realität einer Schwangerschaft
    • Liebe 
    • Sexueller Identitätskonflikt
    • Schuldgefühle/Scham
    • Nihilismus
    • Iatrogenese

Faktoren bei Nichtanwendung [21] 

  • psychosoziale Erreichbarkeit
  • Reale und phantasierte Nebenwirkungen
  • Unterschätzung der Unannehmlichkeit aller Verhütungsmethoden
  • Psychologische Ursachen für Nichtanwendung
    • Bindungswunsch
    • Verleugnung der Realität einer Schwangerschaft
    • Liebe 
    • Sexueller Identitätskonflikt
    • Schuldgefühle/Scham
    • Nihilismus
    • Iatrogenese

Nach wie vor werden Fragen, Ängste und Unsicherheiten zum Einfluss der Kontrazeptiva auch heute von unseren Patientinnen an uns herangetragen. Und nach wie vor wirkt sich Ambivalenz als Grundkonflikt der Trennung  von Sexualität und Fruchtbarkeit als Hindernis für eine rundum konsequente Verhütung aus: Ein großer Teil der Schwangerschaften tritt weiterhin ungeplant ein und auch die beschriebenen Nebenwirkungen treten weiter auf [22, 23].

Hinsichtlich der Langzeitkontrazeptiva, die aktuell verstärkt beworben werden, wäre es interessant, ihre Auswirkungen auf Zyklusverständnis, Kinderwunsch und Sexualität zu untersuchen, denn in der Sprechstunde ist die Unsicherheit im Umgang mit physiologischen Zyklusabläufen (Ovulationsschmerz, Veränderung des Cervixschleims) nicht selten Thema und Anlass für eine gewünschte ärztliche Beratung und Untersuchung wegen befürchteter krankhafter Prozesse.

Wichtige Veränderungen der Verhütung, die sich in den  vergangenen Jahrzehnten ergeben haben, möchte ich hier als Thesen vorstellen [8]:

  • Der Bedeutungsgehalt der Pille und anderer hormoneller Antikonzeptiva hat sich  in Richtung Lifestyle-Medikament mit der Folge selbstverständlicher Einnahme bzw. Anwendung auch ohne aktuellen Verhütungsbedarf verändert.
  • Der Umgang mit Fruchtbarkeit und Verhütung ist – durch die Entwicklung von Methoden, die keine oder nur eine geringe Compliance fordern – einfacher, instrumenteller und rationaler geworden; er bedingt aber auch neue Unsicherheiten im Umgang mit dem Zyklus.
  • Die Wahlfreiheit des Kinderwunsches kann zum Planungszwang werden – mit der Folge, dass aus temporär gewollter Kinderlosigkeit nicht selten eine andauernd ungewollte wird.
  • Die psychosomatische Verhütungsberatung ist ein wichtiger Aspekt zur Förderung der Compliance und damit zur Verbesserung der kontrazeptiven Sicherheit; sie trägt außerdem zur beiderseitigen Zufriedenheit von Patientin und Arzt/Ärztin bei.

Der Hinweis auf die Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung für die Compliance  und die Forderung nach einer besseren Beratung und Betreuung ist nicht neu [6, 24].

Das Verständnis einer solchen Beratung geht über die reine Information und die Aufklärung zu Vor- und Nachteilen der Methoden, zu Anwendungsdetails, Risiken und Nebenwirkungen  hinaus.  Hilfreich als Grundlage für jede Beratung ist das Material der BzgA als Print- und Onlineausgabe [25], das die Beratung zeitlich und inhaltlich entlastet und in keiner Praxis fehlen sollte, die persönliche ärztliche Beratung aber nicht ersetzt.

Aufgaben in der Psychosomatischen Verhütungsberatung

Lotse – Informationsfilter und -führer

 

Voraussetzungen sind dafürKenntnisse über alle Kontrazeptiva und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile sowie die Fähigkeit zur patientenzentrierten Kommunikation zur Vermittlung von Informationen.

Nach einer Repräsentativbefragung der BzgA aus dem Jahre 2003 [17] zum Verhütungsverhalten Erwachsener wurde bei der Frage, über welche Personen oder Medien die Befragten am liebsten weitere Informationen zur Empfängnisverhütung erhalten würden, an erster Stelle  (mit 69 %) der Arzt/die Ärztin genannt; von Frauen etwas mehr als von Männern. Erst an 5. Stelle wurde das Internet und  völlig abgeschlagen die Gespräche mit Freunden und Verwandten genannt. Diesen Vertrauensvorschuss gilt es zu nutzen.

Der  Wissenszuwachs  und  die  Informationsflut  zum Thema „Verhütung“ seit  Einführung der Pille 1960  ist nahezu unüberschaubar. Heute stehen unzählig viele Präparate unterschiedlicher Zusammensetzung und Dosierung zur Verfügung, von Generika mit fast täglich neu auftauchenden Namen und unterschiedlichen Preisen bei gleicher Zusammensetzung ganz zu schweigen; auch für Fachleute ist es da nicht mehr selbstverständlich, den Überblick zu behalten.

Wieviel stärker Patientinnen sich in dieser Informationsflut zurechtfinden müssen und im Angebot von Internet, Orientierungen in Peer-groups, Ansprachen durch Pharmafirmen etc.  Orientierung und Informationskanalisierung benötigen und wünschen, drückt die oben beschriebene Vertrauensfrage nach der primären Ansprechperson aus, die offensichtlich für die meisten nach wie vor der Frauenarzt /die Frauenärztin ist.

Für Beratungen zur Kontrazeption fehlen bisher evidencebasierte Leitlinien, die für andere Fachgebiete selbstverständlich sind [26]. So spielen offensichtlich persönliche Erfahrungen der Berater – und damit auch ihr Sozialstatus – eine größere Rolle bei der Empfehlung und Verschreibung von Antikonzeptiva als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, wie eine Schweizer Studie belegt [27]. Nicht zuletzt hängt die Verordnung aber auch von den sehr unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Patientin ab.

Beratung zur Verhütung braucht aber auch Zeit, um die Vorstellungen der Patientin, ihren Wissensstand und  ihre „innere Informations-Datenbank“ kennenzulernen. Verhütung ist nicht nur ein Wissens- sondern auch Verhaltenslernen, also z.B. für junge Frauen zu lernen, regelmäßig täglich die Pille einzunehmen [24]. Ebenso ist es wichtig, Informationen sachlich-korrekt in die Vorstellung der individuellen Frau  einzuordnen, denn Fehlinformationen, falsch verstandenes und Halbwissen sind gerade hier weit verbreitet, rationale Argumente und irrationale Befürchtungen oft vermischt („eingewachsene Spirale“, „TROPIS“ : Schwangerschaften trotz regelmäßiger Pilleneinnahme“, kontrazeptive Sicherheit  in der postmenstruellen Phase etc.).

Und auch eine immer detailliertere Aufklärung  trägt nicht in jedem Fall zur Verbesserung der Compliance bei: Dabei ist an die Paradoxie der Bewerbung der Pille als Lifestylemedikament einerseits und Ausmaß und Inhalt jedes Beipackzettels eines Ovulationshemmers andererseits zu denken.

Korrektiv (individuell und gesellschaftlich)

Voraussetzung hierfür ist die Reflexion eigener Einstellungen zu Sexualität, Fruchtbarkeit und Kontrazeption.

Haben wir als Frauenärzte/-innen auch korrektive Aufgaben in der Verhütungsberatung?  Steht es uns zu oder ist es sogar unsere Aufgabe, Lebensvorstellungen und Planungen unserer Patientinnen zu thematisieren, geäußerte Zwänge zu hinterfragen und damit Mitgestalter sowohl an der individuellen Lebensplanung der Frau als auch am demografischen Wandel der Gesellschaft zu sein, wie in der langen Geschichte der Empfängnisverhütung immer wieder einmal vermutet, gefordert oder auch befürchtet wurde [14]?

Vor längerer Zeit thematisierte  Gerda Enderer-Steinfort [28] kritisch und sarkastisch unseren ärztlich-blinden Fleck bei der heutigen Verhütungsberatung als gedankenlose und unreflektierte Erfüllungsgehilfen, wenn wir den Wunsch der Patientin nach absolut sicherer Verhütung bis zum optimalen Zeitpunkt für das dann perfekt geplante Wunschkind  unhinterfragt durch die jahrelange unkommentierte Pillenverschreibung unterstützen. Die Gründe für das häufige und längere Aufschieben der ersten Schwangerschaft sind meist komplexer Natur [29]; sie erschließen sich kaum einer rationalen Argumentation oder kurzen Intervention „zwischen Tür und Angel“ während der Ausstellung eines Pillenrezeptes.

Die Frage ist jedoch berechtigt, welche Botschaft  mit dem Versprechen von optimaler Verhütungsplanung  heute transportiert wird und wie wir als beratende ÄrztInnen damit umgehen. Denn Verhütung heißt heute viel weniger eine bewusste Entscheidung gegen eine Schwangerschaft aus existentieller Notwendigkeit für eine begrenzte Lebenszeit, sondern vielmehr ein Instrument zur optimalen Lebensplanung – verbunden mit dem Paradigma von Autonomie und Freiheit. Wie schwer es offenbar ist, dieser Lebensvorstellung mit einer selbstbestimmten, eigenverantworteten Entscheidung bewusst Grenzen zu setzen, wird mitunter spürbar: Manja, eine 35-jährige Patientin benannte es so: „Als Frau hat man ein Instrument in der Hand, dass es einem erlaubt zu bestimmen, dass man schwanger wird – man verdrängt es oft“.

Das Verdrängen der existentiellen Dimension der Verhütung begegnet mir in der Sprechstunde nicht selten – und führt ebenfalls nicht selten zur Sprachlosigkeit zwischen den Partnern und dazu, dass der durchaus und grundsätzlich vorhandene Kinderwunsch unbestimmt und unbewusst über lange Zeit in der Schwebe gehalten wird. Mit der Sprachlosigkeit wird  für die Frau/das Paar eine Auseinandersetzung, aber auch eine Klärung der eigenen Lebensvorstellungen, der Verantwortung dafür und ihrer Grenzen vermieden. Sprachlos und damit unbenannt bleiben auch die Möglichkeiten zur Reifung an diesem Konflikt oder zum Wechsel der Perspektive mit dem Blick auf das Kind [30].

Grenzen sind notwendig zur Auseinandersetzung und Reifung. Für offensichtlich nicht wenige Frauen gilt die biologische Grenze für die Fruchtbarkeit mit 35 Jahren als erstmaliger Anlass, sich mit dem Kinderwunsch überhaupt auseinanderzusetzen (Zitat einer Patientin:

„Die Zeit bis 35 gönne ich mir“); wie wir wissen, hält solche Überschätzung von Fertilitätschancen der Wirklichkeit in vielen Fällen nicht stand.

Wir kennen sicher alle Frauen, die – langjährig in fester Beziehung und mit gesichertem Arbeitsverhältnis lebend – ihren bevorstehenden Kinderwunsch immer wieder einmal bei der Krebsfrüherkennungsuntersuchung thematisieren und erfragen, was an Vorbereitungen dazu sinnvoll und nötig ist, aber dann doch jährlich wieder das Pillenrezept mitnehmen und versichern, dass „es“  noch nicht soweit sei…

Die Fragen nach diesem „es“, nach dem vorgestellt richtigen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft und danach, worauf eigentlich gewartet wird – mit respektvoller Neugier und Empathie von uns gestellt – kann die Sprachlosigkeit beenden. Mitunter werden die eigenen Ambivalenzen der Frau, andere Vorstellungen des Partners, tiefergreifende Partnerschaftskonflikte oder auch die Grenzen einer optimalen Lebensplanung und der ebenso begrenzt eigenen Verantwortung dafür erstmals bewusst und benannt.

Es ist spannend und braucht eine vertrauensvolle Beziehung, die Frage nach der Familienplanung in der Sprechstunde zu thematisieren und damit zu erfahren, wie individuell die einzelne Frau die Spannung zwischen Planung und Offenheit für sich erlebt und damit umgeht: nicht selten ist es das erste Mal, dass sie ihre eigene Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit dabei überhaupt wahrnimmt und für sich reflektiert, so äußern es  nicht wenige Frauen selbst. (Zitat einer kinderlos gebliebenen Frau: „Ich habe mich nie gegen ein Kind entschieden; das Problem ist: ich habe mich nie bewusst dafür entschieden“)

Kaum einmal wird thematisiert – und auch diese Wahrnehmung gehört zur korrektiven Aufgabe innerhalb der Gesellschaft –, dass wir ohnehin nur den „privilegierten“ Teil der Frauen beraten, die sich Verhütung überhaupt leisten können und wollen – das betrifft nach meinem Verständnis nicht nur reale finanzielle, sondern auch bildungsmäßige Armut, also fehlende Teilhabe an der Gesellschaft und der eigenen Zukunftsgestaltung.

K. Leithner-Dziubas [21] spricht von „Nihilismus“ als einen Grund für fehlende Verhütung: Wenn Gefühle von Apathie, Hoffnungslosigkeit und realer Armut ohne Veränderungsmöglichkeiten überwiegen, fehlt der Versuch, ungewünschte Schwangerschaften überhaupt zu verhindern.

Junge schwangere Patientinnen und ihre Partner – beide arbeitslos, ohne beruflichen Abschluss und ohne Bildungs- oder Arbeitschancen (oder -willen) betreuen wir in der Praxis nicht selten: Verhütungsberatung mit Stärkung einer grundsätzlichen Motivation zur Antikonzeption ist hier unbedingte Notwendigkeit. Bedrückend ist und bleibt es, wenn – trotz sichtbarer Überforderung von beiden Partnern – nach mehr oder weniger kurzer Zeit erneut eine Schwangerschaft eingetreten ist, weil sichere Verhütung nicht genutzt wurde, nicht ausreichend zur Verfügung stand, oder als zu teuer erlebt wird. Letzteres betrifft auch den Sterilisationswunsch mancher Frau, die realistisch jede weitere Schwangerschaft als Überforderung für sich einschätzt und die irreversible Verhütung als sinnvollen Weg sieht; es gibt jedoch keinerlei finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten dafür oder auch für Verhütungsmittel überhaupt, während die Kostenerstattung für einen Schwangerschaftsabbruch erheblich großzügiger gehandhabt wird.

Die Forderung nach sicherer und kostenloser Verhütung für Frauen und Paare mit einem geringen Einkommen als Sicherung eines existenziellen Menschenrechtes, ist deshalb auch ein zutiefst psychosomatisches Anliegen und sollte unsererseits unterstützt werden.

Begleiter/-in  Gesprächspartner/-in und Vertrauensperson
Voraussetzung hierfür ist die Gesprächsbereitschaft der Patientin.

Wie befriedigend, schön und spannend es sein kann, in langjähriger Praxistätigkeit als niedergelassene Frauenärztin/Frauenarzt eine Patientin über viele Jahre hinweg in ihrer Fruchtbarkeit zu begleiten, durch freud- und leidvolle Zeiten, ist keine neue Erfahrung, sie sollte aber wieder einmal ins Bewusstsein geholt werden.

Es ist kein selbstverständlicher Vertrauensvorschuss, wenn uns Frauen durch die Verhütungsberatung Einblick in ihre jeweilige Lebens- und Beziehungssituation geben, uns Anteil nehmen lassen an ihren Vorstellungen von Sexualität und Familienplanung.

Und es ist auch unsererseits keine Selbstverständlichkeit, den damit verbundenen Erwartungen an uns immer gerecht zu werden. Gerade angesichts der immer weiter beschnittenen Ressourcen an Zeit für Gespräche und der fehlenden finanziellen Anerkennung für diese anspruchsvolle Beratungsaufgabe, ist es wichtig, eigene Sensibilität und Wertschätzung dafür zu stärken und einzufordern, um Zufriedenheit, einen inneren Freiraum  und Phantasie zu behalten: alles Dinge, die in der Verhütungsberatung auch einen Platz haben oder finden sollten.

Bereits vor Jahrzehnten hat Nijs [11] darauf hingewiesen, dass zur Erfüllung dieser Aufgabe der Verhütungsberatung  neben der Gesprächsbereitschaft seitens des Arztes/Ärztin eben auch Zeit und eine entsprechende Atmosphäre gehört – Faktoren, die mit vordergründiger Ausrichtung auf Wirtschaftlichkeit und Effektivität in unseren heutigen Sprechstunden schwer zu vereinbaren sind.

Viel mehr kommt es auf die Zwischentöne, das genaue Zuhören, auf Intimität, Gelassenheit, Geduld und auf das Erfassen und das passende Ansprechen des Nicht- Gesagten, das nonverbal mitschwingt, an.

Unsere Aufgabe ist es, die Patientin in ihren Überlegungen zur Verhütung wertfrei und akzeptierend wahrzunehmen und ihre Entscheidungen zu respektieren. Dazu gehört auch, sie gerade in widersprüchlichen Zeiten bezüglich der eigenen Fruchtbarkeit  zu verstehen,  Ambivalenzkonflikte mit auszuhalten und sie ihnen in angemessener und verständlicher Weise bewusst zu machen: Voraussetzung dazu ist, dass wir sie selbst erkennen und darüber hinaus die eigenen Ambivalenzen dazu reflektiert haben [7].

Wenn das gelingt, ist nicht nur die Verhütungsberatung wieder ein lustvoller Teil unserer Arbeit, sondern dieses Verständnis setzt sich in der Begleitung der Schwangerschaften – glücklich oder leidvoll – in der Geburtsvorbereitung, beim Übergang zur Elternschaft, bei Lebens- und Partnerschaftskonflikten, später auch beim Beginn des Klimakteriums, im Alter und ebenso bei schweren Erkrankungen und deren Begleitung fort.

„Antikonzeptives Councelling ist die Begleitung des Paares durch die ganze fruchtbare Lebensphase in der Gestalt einer langen Reihe von Kurzgesprächen“ [15].

Korrespondenzadresse

Dr. med. Dorothea Schuster
FÄ für Frauenheilkunde und Geburtshilfe / Psychotherapie
Frauenärztliche Gemeinschaftspraxis
Rudolf-Renner-Straße 37
01159 Dresden

Slide Gyne 05/2016 Psychosomatische Aspekte der Verhütung

Literaturverzeichnis

  1. http://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/yasmin-klage-gegen-bayer-entfacht-streit-um-antibaby-pillen-a-933564.html
  2. https://www.spiegel.de/gesundheit/sex/antibabypille-yasminelle-31-jaehrige-verklagt-bayer-a- 1068186.html
  3. https://www.tagesschau.de/inland/antibabypille-klage-105.html
  4. http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-10/verhuetung-pille-antibabypille-thrombose-verordnung
  5.  www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/Archiv/2014/20140130.pdf
  6. Merkle, E. (2016): Update Kontrazeption. Frauenärztliche Beratungskompetenz wichtiger denn je. gynäkologie+geburtshilfe.2016; 21 (2)
  7. Schuster, D. (2005): Die Qual der Wahl – Von der Lust und dem Frust der täglichen Verhütung. In: Stöbel-Richter,Y.et al. (Hg.): Anspruch und Wirklichkeit in der psychosomatischen Gynäkologie und Geburtshilfe. Beiträge der Jahrestagung 2005 der DGPFG. Psychosozial. Gießen S.55–65
  8. Schuster, D. (2011): Psychosomatische Aspekte der Verhütung und ihre Wahrnehmung in der Verhütungsberatung. Vortrag: „Kontrazeption – Einfluss auf Körperwahrnehmung, Sexualität und Partnerschaft“, 1.Deutscher Verhütungskongress Wiesbaden, 01.04.2011
  9. Neises, M. (2000): Kontrazeption. In: Neises, M. u. Ditz,S. (Hg.) Psychosomatische Grundversorgung in der Frauenheilkunde.  Georg-Thieme. Stuttgart / New York, S.115
  10. Rosemeier, H.-P. (2001):  Zur Psychologie der Kontrazeption Frauenarzt  42, Nr. 10, S. 1120ff
  11. Nijs, P. (1972): Psychosomatische Aspekte der oralen Antikonzeption. Ferdinand-Enke, Stuttgart
  12. Petersen, P. (1969): Psychiatrische und psychologische Aspekte der Familienplanung bei oraler Kontrazeption. Eine psychiatrisch-endokrinologische und sozialpsychiatrische Untersuchung. Georg-Thieme, Stuttgart
  13. Petersen, P. (1981): Psychische Störungen bei hormonaler Kontrazeption der Frau. MMW, 123, Nr. 27, S. 1109–1112
  14. Jütte, R. (2003): Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, C.H. Beck, München
  15. Nijs, P. (2005): Die moderne Geburtenregelung: Schöpfungswonne oder programmierte Prokreation?,  In: Stöbel-Richter,Y. et al. (Hg.): Anspruch und Wirklichkeit in der psychosomatischen Gynäkologie und Geburtshilfe. Beiträge der Jahrestagung 2005 der DGPFG, Psychosozia,. Gießen, S. 39–54
  16. Stephen, A. Robinson et al (2004): Do the emotional side- effects of hormonal contraceptives come from pharmacological or psychological mechanism? Elsevier doi: 10.1016/jmehy 2004.02.013
  17. BzgA (2003): Verhütungsverhalten Erwachsener 2003. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung 20- bis 44-jähriger. Hrsg.: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln
  18. BzgA (2011): Verhütungsverhalten Erwachsener 2011 – Ergebnisse einer Repräsentativbefragung TNS Emnid Bielefeld im Auftrag der BzgA (Hrsg), Köln 2011
  19. Jugendsexualität. Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern
    Ergebnisse der Repräsentativbefragung aus 2007, Hrsg: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln, 2007
  20. Jugendsexualität. Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern
    Ergebnisse der Repräsentativbefragung aus 2010, Hrsg: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln, 2010
  21. Leithner K, Jandl-Jager E. Das Leiden an der Kontrazeption. In: Springer-Kremser M, Ringler M, Eder A. Patient Frau. Psychosomatik im weiblichen Lebenszyklus, Springer Verlag, 2001, 111–121.
  22. Neuhaus, W. (2000): Psychosomatische Aspekte der Kontrazeption und Sterilisation. In: Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe. Ein Leitfaden für Klink und Praxis ENKE Georg- Thieme, Stuttgart. New York, S. 35–39
  23. Seyler, H. (2004): Empfängnisverhütung oder : Selbstbestimmte Fruchtbarkeit
    In: Beckermann, M. J. u. Perl,F.M. (Hg.) Frauen-Heilkunde und Geburts-Hilfe. Integration von Evidence Based Medicine in eine frauenzentrierte Gynäkologie, Schwabe. Band 1, S. 825ff.
  24. Bitzer, J. (2010): Kontrazeption – von den Grundlagen zur Praxis. Ein kurzes Lehrbuch. Georg-Thieme-Verlag KG, Stuttgart, 2010.
  25. BzgA (2014): Sichergehen. Verhütung für sie und ihn. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Köln
  26. AWMF-Leitlinien-Register Nr.15/015  „Empfängnisverhütung“. Leitlinien der DGGG (Stand 05/2008)
  27. Bianchi-Demicheli F, Perrin E, Bianchi P G, Dumont P, Ludicke F, Campana
    A. Contraceptive practice before and after termination of pregnancy: a prospective study. Contraception 2003; (67): 107–11
  28. Enderer-Steinfort, G. (2008): Zentrales Problem: die perfekte Verhütung!
    Frauenarzt 49 (10), 892–894
  29. Kearney, A.L. et al. (2016): Examining the psychosocial determinants of women`s decisions to delay Childbearing. Human Reprod 2016, online 30. May
  30. Petersen, P. (1997): Vom Paradigma der Familienplanung zum Konzept der Kindesankunft – ein Wandel ist notwendig. In: Dietrich, C.. u. David, M. (Hg.): Freiräume und Zwänge. Tagungsbeiträge des IX. Symposiums der OGGPG. Akademos, Hamburg

Artikel des Monats Mai 2016

Artikel des Monats Mai 2016

vorgestellt von PD Dr. med. Friederike Siedentopf

Mellado BH, Falcone AC, Poli-Neto OB, Rosa E Silva JC, Nogueira AA, Candido-Dos-Reis FJ.
Social isolation in women with endometriosis and chronic pelvic pain.
Int J Gynaecol Obstet. 2016 May;133(2):199-201

Ziel der Studie
Evaluation der sozialen Bindungen bei Patientinnen mit Endometriose und chronischem Unterbauchschmerz.

Methoden
Mit Hilfe der Grounded-Theory-Methode wurde eine qualitative Studie an Frauen mit chronischem Unterbauchschmerz und Endometriose durchgeführt. Die Datenerhebung erfolgte zwischen Februar 2013 und Januar 2014 im Clinics Hospital der Ribeirão Preto Medical School in Ribeirão Preto, Südwest Brasilien. Es erfolgten Gruppensitzungen mit vier bis sechs Teilnehmerinnen. Die Transkripte der Sitzungen wurden analysiert und unter Verwendung der WebQDA Plattform kodiert.

Die Grounded-Theory-Methode wurde von Glaser und Strauss in den 1960er Jahren erarbeitet (Glaser & Strauss 1967). Sie ist charakterisiert durch einen ständigen Wechsel von Datenerhebung und Reflexion der Datenanalyse und darauf basierender Theoriebildung. Ihre wesentlichen Merkmale sind das Konzeptualisieren, das permanente Vergleichen, das Theoretical Sampling und das Memo Writing. Dabei geht die Grounded-Theory-Methodologie über die bloße Deskription hinaus und zielt drauf ab, die hinter den Daten liegenden Konzepte zu erfassen und zu analysieren.

Ergebnisse
Es fanden sechs Gruppendiskussionen statt, insgesamt nahmen 29 Patientinnen daran teil. Soziale Isolation war das Hauptthema der Sitzungen. Die soziale Isolation war assoziiert mit einem Mangel an Verständnis für die Symptome der Endometriose seitens der Umwelt und mit resignativen Gefühlen angesichts wiederkehrender Schmerzepisoden. Vermeidung von Intimität mit dem Partner und Rückzug von Familie und Freunden waren wesentliche Komponenten der sozialen Isolation.

Schlussfolgerung der Autoren
Frauen mit Endometriose und chronischen Unterbauchschmerzen leiden unter sozialer Isolation. Diese Erkenntnis ist sollte im multidisziplinären Management der Erkrankung berücksichtigt werden.

Bei der vorgestellten Untersuchung wurde ein interessanter qualitativer Studienansatz angewandt. Soziale Isolation ist ein gesundheitlicher Risikofaktor. Sollte es möglich sein, im Rahmen der psychosomatischen Behandlung von Endometriosepatientinnen diesen Risikofaktor zu reduzieren, kann evtl. eine Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Frauen erreicht werden. Darüberhinaus sind Interaktionen zwischen immunologischen Vorgängen der Endometrioseentstehung und durch die soziale Isolation verursachte immunologische Prozesse denkbar. Hier wäre dann in der Zukunft auch ein grundsätzlicher therapeutischer Ansatz möglich.

Weiterführende Literatur
Glaser, Barney & Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine

Gyne 04/2016 – Psychosomatische Aspekte in der Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch

Gyne 04/2016
Psychosomatische Aspekte in der Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch

Autoren: Tewes Wischmann und Petra Thorn

 

   

Bei Einführung der Pille vor weit über 50 Jahren setzte eine rege Forschungstätigkeit zu psychosomatischen Aspekten der neuen Kontrazeption ein: erhoffte und befürchtete Einflüsse der Pille auf Körperwahrnehmung, Sexualität, Partnerschaft und Fertilität wurden detailliert untersucht und beschrieben.

Obwohl Antikonzeptiva seitdem quantitativ und qualitativ eine überwältigende Entwicklung und Differenzierung erfahren haben,  ist die Erforschung von ihren psychosomatischen Aspekten nicht wesentlich weitergegangen;  so existieren beispielsweise zu Auswirkungen der neuen Langzeitmethoden (Hormonimplantate, Langzyklus, Hormonspirale) auf Sexualität, Partnerschaft und Körperwahrnehmung kaum Untersuchungen.

Die in den früheren Arbeiten ursprünglich beschriebenen psychosomatischen Aspekte sind jedoch auch bei der Anwendung  heutiger Antikonzeptiva weiter präsent – wahrnehmbar sind sie  in der Verhütungsberatung mit dem Wissen darum und entsprechender Aufmerksamkeit. Diese setzt sowohl Zeit für die Beratung  als auch Sensibilität und respektvolle Neugier voraus. Die Beachtung der psychosomatischen Aspekte von Kontrazeption und ihre Einbeziehung in die Verhütungsberatung kann die Zufriedenheit sowohl für die ratsuchenden Frauen und Paare als auch für die beratenden ÄrztInnen  deutlich steigern und ebenso die Effektivität der Verhütung verbessern.

Zahlen und Fakten zu ungewollter Kinderlosigkeit

Die häufig genannte Zahl von sechs Millionen kinderloser Frauen und Männer mit (früherem oder aktuellem) Kinderwunsch in Deutschland entstammt einer pharmafinanzierten Umfrage und ist sicherlich  zu hoch beziffert. Bezogen auf die Zahl der Personen, die seit mindestens einem Jahr versuchen schwanger zu werden, ergibt sich eine Prävalenz von knapp 500.000  ungewollt kinderloser Frauen und Männern. Prozentual gesehen sind etwa 30% der Frauen und Männer in Deutschland kinderlos, jede/r 4. Kinderlose ist dabei ungewollt kinderlos [2]. Zunehmend werden die Verfahren der ART in Anspruch genommen: Jedes Jahr begeben sich über 22.000 Frauen (bzw. Paare) erstmals in eine reproduktionsmedizinische Behandlung [3]. Diese ist allerdings nicht in jedem Fall von Erfolg gekrönt: Etwa die Hälfte aller Paare geht nach drei Behandlungszyklen ohne Lebendgeburt aus der ART heraus, und knapp 40% nach vier Zyklen [4]. Diese Zahlen verdeutlichen die Wichtigkeit eines „Plan B“ in der Kinderwunschberatung. Die Erfolgschancen werden sich die nächsten Jahre voraussichtlich nicht wesentlich verbessern, da der reproduktionsmedizinische Fortschritt durch den Anstieg des Durchschnittsalters der Patientin (bereits 35,2 Jahre in 2014) kompensiert wird, zumal sich auch der Kinderwunsch bei diesen Patientinnen immer später erstmals manifestiert (mit jetzt 32 Jahren verglichen mit 30 Jahren in 2004 [3]).

Nach aktuellem wissenschaftlichen Stand spielen psychische Aspekte (mit-)ursächlich nur bei verhaltensbedingter Fertilitätsstörung eine Rolle, also wenn trotz Kinderwunsch und entsprechender ärztlicher Aufklärung weiter fertilitätsschädigendes Verhalten praktiziert wird (z.B. gestörtes Essverhalten, Hochleistungssport der Frau, Genuss- und Arzneimittel- sowie Drogenmissbrauch bei beiden Partnern), die Konzeptionschancen vom Paar nicht genutzt werden (kein Geschlechtsverkehr an den fruchtbaren Tagen, nicht organisch bedingte sexuelle Funktionsstörung) oder wenn eine medizinisch indizierte Infertilitätsdiagnostik bzw. -therapie zwar bewusst bejaht, sie aber nicht begonnen wird. Für eine nicht-passagere Fertilitätsstörung, die nur als Folge eines intensiven Kinderwunsches, eines (intra-)psychischen Konfliktes oder von übermäßigem Stress erklärbar ist, gibt es wissenschaftlich keinerlei Belege [5]. Die psychologischen Auswirkungen des unerfüllten Kinderwunsches und der ART („Achterbahn der Gefühle“) werden häufig unterschätzt, so dass auch darauf zurückzuführen sein kann, dass  zwei Drittel aller Patientinnen bereits nach dem zweiten Behandlungszyklus die ART beendet – erfolgreich oder erfolglos [3]. Nach neueren Studien erleben sich Frauen und Männer durch die ungewollte Kinderlosigkeit gleichermaßen stark belastet, auch wenn Männer dieses seltener kommunizieren [6]. Häufig wird diese Situation mit dem Verlust eines nahen Angehörigen oder einer schweren Erkrankung verglichen, auch wenn dieses Erleben ein „unsichtbarer“ Verlust ist, da die Paare etwas betrauern müssen – und gegebenenfalls endgültig verabschieden – was sie noch nicht hatten und was für Andere (noch) nicht sichtbar war [7]. Langfristig erscheint die Verarbeitung bei endgültiger ungewollter Kinderlosigkeit machbar: Viele Paare berichten, dass diese gemeinsam erlebte Krise sie letztendlich mehr „zusammengeschweißt“ hat, diese Paare trennen sich meist seltener im Vergleich zur allgemeinen Trennungshäufigkeit. Bei einer erfolgreichen Kinderwunschbehandlung kann bei Familien mit Einlingen weitgehend „Entwarnung“ gegeben werden: Zwar weisen Einlinge nach ART eine etwas höhere Frühgeburtlichkeit und geringeres Geburtsgewicht sowie etwas mehr Fehlbildungen auf, ihre psychosoziale Kindesentwicklung ist aber unauffällig bis positiv, da sie überwiegend als „Wunschkinder“ angesehen werden können. Bezüglich sowohl der körperlichen als auch der psychosozialen Entwicklung ist die Prognose bei (höhergradigen) Mehrlingen und ihren Eltern dagegen insgesamt gesehen eher ungünstig: Mit etwa 22% Mehrlingsgeburten in Deutschland nach ART liegen die Rate der Zwillingsgeburten 16-fach und die der Drillingsgeburten 70-fach höher als bei spontan konzipierten Kindern. Diese Mehrlingsschwangerschaften gehen einher mit dem Risiko einer Frühgeburt und allen damit verbunden Folgerisiken.

Auch Kinder nach Gametenspende (Samen- und Eizellspende sowie „Embryonenspende“) und Leihmutterschaft entwickeln sich weitgehend unauffällig, und dies unabhängig von der sexuellen und sozialen Ausrichtung der Eltern (homosexuelle Familien, Solo-Mutter-Familien [8]). Mittlerweile empfehlen vor allem psychosoziale Fachkräfte eine frühzeitige Aufklärung (im Kindergartenalter) dieser Kinder, so dass sie die Besonderheit ihrer Zeugung frühzeitig in ihre Identität integrieren können. Damit werden darüber hinaus die Belastung eines Familiengeheimnisses und ein Vertrauensbruch zwischen Kind und Eltern vermieden. Zu bedenken ist, dass im Sinne der so gezeugten Kinder keine Anonymität der Spender/innen oder Leihmütter herrscht, denn viele haben, wie Adoptivkinder, ein Interesse oder sogar starkes Bedürfnis, ihre biologischen bzw. genetischen Wurzeln sowie mögliche Halb- oder Vollgeschwister kennenzulernen [8, 9]. Dem internationalen Stand der Forschung nach ist also eine Anonymität der Spender/innen oder Leihmütter aus psychosozialer Sicht eindeutig abzulehnen.

Formen psychosozialer Kinderwunschberatung

Nach Wischmann [4] werden international inhaltlich folgende Arten von psychosozialer Beratung unterschieden: „Implications counselling“, „Decision-making counselling“, „Support counselling“, „Crisis counselling“, und „Therapeutic counselling“ (vorgeschaltet oft noch „Information gathering and analysis“). Im Allgemeinen werden diese Formen der psychosozialen Kinderwunschberatung auch unterschiedlichen Berufsgruppen, die mit Kinderwunschdiagnostik und -behandlung befasst sind, zugeordnet. So dürften „information gathering“ und „decision-making counselling“ im Rahmen des „patient-centered care“ durch die Reproduktionsmediziner und das andere Personal geleistet werden können, idealerweise auch durch psychosomatisch orientierte niedergelassene Frauenärzte/innen. „Implications counselling“ wird vor allem im Vorfeld einer Behandlung mit Gametenspende empfohlen, so dass sich Ratsuchende mit den besonderen Fragen, die mit sozialer und biologischer Elternschaft und der Aufklärung des Kindes und des Umfeldes einhergehen, frühzeitig auseinandersetzen können. „Support counselling“ wird üblicherweise durch die behandlungsunabhängige psychosoziale Beratungsfachkraft gegeben werden können (und meist auch „Crisis counselling“), während „Therapeutic counselling“ in der Regel einen spezifisch ausgebildeten Psychotherapeuten notwendig macht. Sowohl Beratung als auch Psychotherapie bei ungewollter Kinderlosigkeit – auch im Gruppensetting – gelten als evidenzbasiert wirksam (im Sinne einer emotionalen Entlastung der Klienten und deren besseren Bewältigung der Kinderlosigkeit), für andere psychosoziale Interventionen (wie z.B. Selbsthilfegruppen, Telefonberatung, Internetrecherchen) fehlt dieser Nachweis allerdings noch [5].

Für eine angemessene Berücksichtigung psychosomatischer Aspekte in der Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch sollten ausreichende psychosoziale Basiskompetenzen im reproduktionsmedizinischen Team vorhanden sein sowie eine niedrigschwellige Kooperation mit einer (externen) psychosozialen Beratungsfachkraft (bzw. einer/m psychosomatisch orientierten Frauenärztin/-arzt) etabliert sein. Hilfreich erweist es sich, bei diesem noch immer schambesetzten und teilweise tabuisierten Thema Fruchtbarkeitsstörung, den Paaren ideologiefrei, mit Offenheit und Wertschätzung der individuellen Umgangsweisen zu begegnen. In jedem Fall ist eine ergebnisoffene und allparteiliche Haltung in der Kinderwunschberatung zwingende Voraussetzung, die auch die Achtung der reproduktiven Autonomie der Frau bzw. des Paares sowie des Kindeswohls beinhaltet. Der Zugang zur psychosozialen Kinderwunschberatung sollte den Paaren vor, während und nach einer ART als auch unabhängig von dieser möglich sein [10]. In der Praxis wird dem Paar mit Kinderwunsch eine Psychotherapie empfohlen werden, wenn eine verhaltensbedingte Fertilitätsstörung vorliegt (also ambulante oder stationäre Therapie beim Vorliegen einer Essstörung, Suchttherapie bei Medikamenten- oder Drogenabusus, Sexualtherapie bei sexuellen Funktionsstörungen), wenn durch die Krise des unerfüllten Kinderwunsches eine depressive Reaktion bei einem Partner ausgelöst worden ist (seltener bei beiden) oder wenn eine gravierende Kommunikationsstörung beim Paar vorliegt [11].

Wie ist es um die Inanspruchnahme psychosozialer Kinderwunschberatung bestellt? In einem Bericht für das BMFSFJ [10] wurde festgestellt, dass ein solches Beratungsangebot zwar bei vielen Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen vorgehalten wird, betroffene Paare dieses Angebot aber nicht wahrnehmen können, da es sozusagen „auf dem Türschild“ nicht präsent ist (im Gegensatz zum Schwangerschaftsberatung). Das Wort „Kinderwunschberatung“ ist auch nur auf wenigen Websites dieser Beratungsstellen vorhanden. Nur etwa 8% der Schwangerschaftsberatungsstellen gaben in dieser Erhebung an, regelmäßig Kinderwunschberatungen durchzuführen. Ähnliche Aussagen konnten zum Beratungsangebot der reproduktionsmedizinischen Zentren getroffen werden: Nach ärztlichen Richtlinien sollte das Angebot psychosozialer Kinderwunschberatung in jedem Fall vorgehalten werden, de facto war dieses aber unterrepräsentiert, genau wie auch auf den Websites der Zentren. Diese Einschätzung deckt sich mit den Erfahrungen der Betroffenen: Etwa 58% der Frauen und 50 % der Männer einer repräsentativen Interviewstudie hatten von dem Angebot der psychosozialen Beratung bei Kinderwunsch gehört, aber nur 6% der Frauen und 0,5% der Männer hatten diese genutzt [13]. Dieser Studie zufolge wurde nur 43% der Patienten in einer reproduktionsmedizinischen Behandlung von ihrem Arzt/ihrer Ärztin auf die Möglichkeit der psychosozialen Beratung durch eine andere Fachkraft hingewiesen.

In dem o.g. Bericht [10] wurde entsprechend gefordert, dass 1. eine Entstigmatisierung der psychosozialen Kinderwunschberatung erforderlich wäre (insbesondere für die Männer), 2. diese besser in die medizinische Versorgung integriert werden sollte, und 3. Qualitätssicherungsmaßnahmen für die psychosoziale Kinderwunschberatung etabliert werden sollten. Seit Frühjahr 2016 kann die psychosoziale Kinderwunschberatung von den Ratsuchenden online mittels eines übersichtlichen Fragenbogens anonym evaluiert werden (ein gemeinsames Forschungsprojekt des Staatsinstituts für Familienforschung an der Universität Bamberg, der Deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung – BKiD – und des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg). BKiD versteht sich als Zusammenschluss der Berater/innen in Deutschland, welche langjährige Erfahrungen in der psychosozialen Beratung bei unerfülltem Kinderwunsch haben und die bestimmte Qualifikationskriterien erfüllen [14] Aktuell sind über 160 Beraterinnen und Berater für eine qualifizierte psychosoziale Kinderwunschberatung durch BKiD zertifiziert.

Fazit

Die Vielzahl der aktuellen reproduktionsmedizinischen Angebote – wie z. B. die „Spende“ von Embryonen und „social egg freezing“ in Deutschland oder die Eizellspende im benachbarten Ausland – sowie deren mediale Verbreitung macht es Paaren (und Einzelpersonen) zunehmend schwerer, Grenzen in Bezug auf die Erfüllung des eigenen Kinderwunsches zu ziehen und alternative Optionen zu entwickeln. Inzwischen sind eine realistische Einschätzung der Erfolgsraten von ART und die Entwicklung eines „Plan B“ häufig erst in der behandlungsunabhängigen psychosozialen Kinderwunschberatung möglich und erforderlich. Wünschenswert wären – neben ausgewogener Berichterstattung in den Medien zu den Möglichkeiten, Risiken und Grenzen moderner Reproduktionsmedizin – die Erstellung und niedrigschwellige Bereitstellung von Informationsmaterialien (Broschüren und Onlineangebote), in denen auch die Grenzen und Risiken von Kinderwunschtherapien (einschließlich ihrer ethischen Aspekte) offen thematisiert werden. Ebenso sollten psychosoziale Beratungsangebote zu jedem Zeitpunkt einer reproduktionsmedizinischen Behandlung, aber auch danach bzw. unabhängig davon, für betroffene (hetero- wie homosexuelle) Paare und Einzelpersonen mit unerfülltem Kinderwunsch niedrigschwellig zur Verfügung stehen [10].

Eine Pflichtberatung bei Inanspruchnahme spezifischer Techniken der ART (wie z.B. die Familienbildung mit Gameten Dritter) ist auch aus unserer Sicht abzulehnen, da die Asymmetrie der helfenden Beziehung durch eine „Zwangsberatung“ unzulässig verschärft werden würde. Dieser Asymmetrie kann nur durch die Verantwortung der Beratungsfachkraft für Transparenz, Information und die Möglichkeit des „informed consent“ entgegengewirkt werden [15]. Die Inanspruch- bzw. Nicht-Inanspruchnahme einer psychosozialen Beratung vor einer reproduktionsmedizinischen Behandlung mit Gameten Dritter sollte allerdings verpflichtend dokumentiert werden [9]. Aufgrund der besonderen Form der Familienbildung soll auch dem Spender bzw. der Spenderin bereits vor Gametenspende eine weiterführende behandlungsunabhängige psychosoziale Beratung empfohlen werden.

Infokasten

Fortbildungen zu psychosozialer Kinderwunschberatung werden von BKiD, der Deutschen Gesellschaft für Kinderwunschberatung angeboten [14], entsprechende Fortbildungsmanuale (Grundlagenmanual und Manual zur Gametenspende) sind über den FamART-Verlag erhältlich [16]. Eine aktuelle Einführung in das Gebiet der Reproduktionsmedizin (mit den Schwerpunkten psychosoziale und ethische Aspekte) bietet [4], zur Übersicht ist weiterhin [17] zu empfehlen. Gezielt an Paare mit Kinderwunsch richten sich die beiden praxisbezogenen Ratgeber mit zahlreichen praktischen Anleitungen [7, 18]. Paare vor Gametenspende (in erster Linie Samenspende) werden im Ratgeber von Thorn fündig [19]. Sie hat auch verschiedene Aufklärungsbücher für Familien nach ART (mit-)verfasst [20]: für heterosexuelle, lesbische und Solo-Mutter-Familien mit Kindern nach Samenspende [16]. Das DI-Netz, ein Zusammenschluss von Familien nach Samenspende, hat eine Ratgeber-Reihe herausgegeben, die Eltern beim offenen Umgang mit Gametenspende unterstützt [21]

Für medizinische Basisinformationen ist neben dem kostenlosen (auch online einsehbaren) Broschürenset der BZgA [22, 23] das Buch von Feibner et al. [24] empfehlenswert, die aktuelle wissenschaftliche Leitlinie findet sich in Kentenich et al. [5] und online [25].  Die Leitlinien von BKiD sind ebenfalls online verfügbar [14]. Allgemeine Informationen sowie aktuelle Forschungsberichte zur psychosozialen Kinderwunschberatung in Deutschland, einem Angebot des Bundesfamilienministeriums, sind online einsehbar [26], ebenso wie einen „best-practice Leitfaden“ zur Beratung [27].,  . Ausführlich wird ein Paarberatungs- und Therapiekonzept in [28] beschrieben, die Optionen der verschiedenen Beratungssettings in [29]. Eine Vielzahl von Fachartikeln zur Thematik ist im Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie erschienen [30].

Korrespondenzadresse

Dr. Tewes Wischmann
Institut für Medizinische Psychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin des Universitätsklinikums Heidelberg
Bergheimer Straße 20
69115 Heidelberg
T +49 6221 568137
F +49 6221 565303
E Tewes.Wischmann@med.uni-heidelberg.de

Dr. Petra Thorn
Langener Straße 37
64546 Mörfelden
T +49 6105 22629
E mail@pthorn.de

Slide Gyne 04/2016 Psychosomatische Aspekte in der Betreuung von Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch

Literatur

  1. Boivin J, Bunting L, Gameiro S. Cassandra’s prophecy: a psychological perspective. Why we need to do more than just tell women. Reprod BioMed Online 2013; 27 (1): 11-4.
  2. Wippermann C. Gewollte Kinderlosigkeit und aufgeschobener Kinderwunsch. Eine Umfrage in Deutschland. Gynäkol Endokrin 2016; 14(1): 49-53.
  3. DIR (Deutsches IVF-Register) Jahrbuch 2014. J Reproduktionsmed Endokrin 2015; 9(6): 511-45.
  4. Wischmann T. Einführung Reproduktionsmedizin: Medizinische Grundlagen – Psychosomatik – Psychosoziale Aspekte. München: Reinhardt; 2012. 248 S. p.
  5. Kentenich H, Brähler E, Kowalcek I, Strauß B, Thorn P, Weblus AJ, et al. (Hrsg.). Leitlinie psychosomatisch orientierte Diagnostik und Therapie bei Fertilitätsstörungen. Gießen: Psychosozial-Verlag; 2014.
  6. Wischmann T, Thorn P. Der Mann in der Kinderwunschbehandlung (unter besonderer Berücksichtigung der donogenen Insemination). J Reproduktionsmed Endokrin 2014; 11(3): 134-41.
  7. Wallraff D, Thorn P, Wischmann T (Hrsg.). Kinderwunsch. Der Ratgeber des Beratungsnetzwerkes Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Stuttgart: Kohlhammer; 2014.
  8. Golombok S. Modern families: parents and children in new family forms. Cambridge: Cambridge University Press; 2015.
  9. Thorn P, Wischmann T. Leitlinien für die psychosoziale Beratung bei Gametenspende. J Reproduktionsmed Endokrinol 2008; 5(3): 147-52.
  10. Wischmann T, Thorn P. Psychosoziale Kinderwunschberatung in Deutschland – Status Quo und Erfordernisse für eine bessere Konzeptualisierung, Implementierung und Evaluation. Bericht für das Bundesfamilienministerium. Berlin: BMFSFJ, 2012.
  11. Wischmann T. Paartherapie bei unerfülltem Kinderwunsch. PID 2014; 15(4): 76-9.
  12. Stöbel-Richter Y, Thorn P, Kentenich H, Brähler E, Wischmann T. Umfrageergebnisse zum Stellenwert psychosozialer Beratung in reproduktionsmedizinischen Zentren in Deutschland – eine Pilotstudie. J Reproduktionsmed Endokrin 2011; 8(3): 416-23.
  13. Wippermann C. Kinderlose Frauen und Männer – Ungewollte oder gewollte Kinderlosigkeit im Lebenslauf und Nutzung von Unterstützungsangeboten. Sozialwissenschaftliche Untersuchung des DELTA-Instituts. Penzberg/Berlin: 2014.
  14. www.bkid.de
  15. Großmaß R. Hard to reach – Beratung in Zwangskontexten. In: Labonté-Roset C, Hoefert H-W, Cornel H (Hrsg.). Hard to reach – Schwer erreichbare Klienten in der Sozialen Arbeit. Berlin: Schribi-Verlag; 2010, p. 173-85.
  16. www.famart.de
  17. Kleinschmidt D, Thorn P, Wischmann T (Hrsg.). Kinderwunsch und professionelle Beratung. Das Handbuch des Beratungsnetzwerkes Kinderwunsch Deutschland (BKiD). Stuttgart: Kohlhammer; 2008.
  18. Wischmann T, Stammer H. Der Traum vom eigenen Kind. Psychologische Hilfen bei unerfülltem Kinderwunsch. 5. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2016. Schwerpunkt: Psychische Aspekte und „Mythen“.
  19. Thorn P. Familiengründung mit Samenspende. Ein Ratgeber zu psychosozialen und rechtlichen Fragen. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer; 2010.
  20. Thorn P. Woher manche Babys kommen. Ein Erklärungs- und Aufklärungsbuch für Kinder, die mit medizinischer Unterstützung gezeugt wurden. Mörfelden: FamART Verlag; 2011.
  21. FamART, Reihe „Offen Gesprochen“, Hrsg. DI-Netz e.V., ab 2013
  22. BZgA. Broschürenset „Kinderwunsch“ – Ursachen, Behandlung, Hilfen (Broschüren 1-3). 51101 Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA); 2012
  23. BZgA. Broschürenset „Kinderwunsch“ – Ursachen, Behandlung, Hilfen (Broschüre 4). 51101 Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA); 2013.
  24. Feibner T, Khaschei K. Hoffnung Kind. Wege zum Wunschkind. Berlin: Stiftung Warentest; 2012.
  25.  www.leitlinien.net
  26. www.informationsportal-kinderwunsch.de
  27. www.ifb.bayern.de/publikationen/materialien.html
  28. Stammer H, Verres R, Wischmann T. Paarberatung und -therapie bei unerfülltem Kinderwunsch. Göttingen: Hogrefe; 2004.
  29. Van den Broeck U, Emery M, Wischmann T, Thorn P. Psychosoziale Kinderwunschberatung: Einzel-, Paar- und Gruppeninterventionen. J Reproduktionsmed Endokrin 2015; 12(1): 13-8.
  30. www.kup.at

Artikel des Monats April 2016

Artikel des Monats April 2016

vorgestellt von Prof. Dr. med. Matthias David

Bernard M. Dickens
Legal and ethical issues of uterus transplantation.
International Journal of Gynecology and Obstetrics 133 (2016) 125–128

Die Berichte über die erfolgreiche Uterustransplantation (UTX) mit nachfolgender erfolgreicher Geburt eines Kindes in Schweden (Team Dr. Brännström/ Göteborg), wobei eine Freundin der Frau die Organspenderin war, hat zu einer weltweiten Diskussion zu diesem Thema geführt. Auch weibliche Familienmitglieder kommen als Spenderinnen in Frage, ohne dass bisher die rechtlichen und ethischen Probleme, die mit einem solchen Vorgehen verbunden sind, ausreichend geklärt wurden. Die ethischen Überlegungen im Zusammenhang mit der UTX haben sich bisher auf die Transplantatempfängerinnen nicht aber auf die Spenderinnen konzentriert. Es ist wichtig, bei Lebend-Spenderinnen deren (altruistische?!) Motivation zu klären. Auch die Übertagung eines Uterus einer Toten, wie sie in der Türkei durchgeführt wurde, wirft neben operationstechnischen durchaus auch ethische Fragen auf.

Die UTX dient allein dem Zweck, erfolgreich selbst ein Kind zu gebären. Der transplantierte Uterus wird nach der ausgetragenen Schwangerschaft wieder entfernt. Der Übersichtsartikel von B.M. Dickens aus Toronto/Kanada setzt sich mit den o.g. dargestellten Fragestellungen – durchaus kritisch – auseinander. Auch wenn es sich bei der Uterustransplantation um eine Operation handelt, die bis auf Weiteres international wenigen hochspezialisierten Zentren vorbehalten sein dürfte, gibt es schon heute auch in der Bundesrepublik Deutschland Nachfragen von Frauen danach. Insofern sollen Frauenärztinnen und Frauenärzte in Praxis und Klinik über die UTX und damit zusammenhängende ethisch und psychische/psychosomatische Aspekte („überwertiger Kinderwunsch“?!) informiert sein.

Prof. Dr. med. Matthias David

Gyne 03/2016 – Für immer müde? Fatigue bei Krebspatienten – Erscheinungsformen, Ursachen, Behandlung

Gyne 03/2016
Für immer müde?  Fatigue bei Krebspatienten
Erscheinungsformen, Ursachen, Behandlung

Autorin: Susanne Ditz

 

Der Begriff „Fatigue“ wurde aus dem französischen und englischen Sprachgebrauch ins Deutsche übernommen. Eine Definition aus den USA von David F. Cella lautet: „Die Tumorerschöpfung, auch Fatigue genannt, bedeutet eine außerordentliche Müdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitätsänderungen ist“ [1]. Die  Tumor-assoziierte  Fatigue (Cancer-related fatigue, CrF) ist nicht selten eine alles überschattende, subjektive Erfahrung, die den gesamten Tagesablauf beeinträchtigen kann. Viele PatientInnen scheinen darunter mehr zu leiden als unter Schmerzen oder psychischen Begleiterscheinungen. Ihr chronischer Verlauf reduziert die Lebensqualität der Betroffenen erheblich, kann zu verminderter Therapietreue und sogar zum Abbruch der Behandlung führen.

Es werden drei Dimensionen der CrF unterschieden:

  • die physische
  • die emotionale und
  • die kognitive Müdigkeit

Dieser multisymptomatische Zustand der Erschöpfung tritt bei Krebspatienten häufig in Zusammenhang mit oder nach systemischen Therapien auf sowie während oder nach Bestrahlungen, kann aber auch im Krankheitsverlauf ohne diese entstehen. Die Ausprägung des CrF ist ebenso individuell wie seine Dauer und abhängig von der Ausgangssituation (körperlicher/ mentaler Status), der psychischen Grundhaltung und der individuellen subjektiven Wahrnehmung.


Prävalenz der CrF

Die Dominanz von Fatigue wird in der Literatur sehr divergierend beschrieben und ist abhängig vom Fatigue-Diagnoseinstrument, dem Erkrankungszeitpunkt und der Tumorentität [2, 3, 4]. Bei der Interpretation epidemiologischer Zahlen zur  Tumor –assoziierten  Fatigue   ist zu bedenken, dass CrF zwar durch eine charakteristische Gruppe von Symptomen gekennzeichnet ist, aber keine nosologische Einheit darstellt. In epidemiologischen Studien wird daher die Häufigkeit der CrF mit Hilfe von Selbsteinschätzungsfragebögen untersucht. Da allerdings sehr unterschiedliche Fragebögen eingesetzt werden und die Feststellung, ab welcher Ausprägung die angegebenen Beschwerden als CrF betrachtet werden, nicht einheitlich sind, schwanken die Ergebnisse zur Prävalenz zum Teil erheblich. In einer Längsschnittuntersuchung einer repräsentativen Stichprobe in Deutschland zur CrF wiesen 32 % der Krebspatienten bereits bei stationärer Aufnahme, 40 % bei Entlassung und 36 % nach 6 Monaten, deutlich stärkere Müdigkeits- und Erschöpfungssymptome auf als eine gesunde Vergleichsgruppe. Fatigue wurde in dieser Studie mit der sog. „Multidimensional Fatigue Inventory“ (MFI) gemessen (Subskala „generelle Fatigue“ [5].

 

Erklärungsmodell

Es gibt kein einheitliches Erklärungsmodell über die genauen Ursachen tumorassoziierter Fatigue. Alle Erklärungsmodelle zur Ursache und Entstehung von Müdigkeits- und Erschöpfungssyndromen gehen von einem multifaktoriellen und multikausalen Geschehen aus [6]. Bei der CrF können diese durch den Tumor bedingt oder Folge der Therapie sein; aber auch Ausdruck einer genetischen Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch verhaltens- oder umweltbedingter Faktoren. Damit ergibt sich eine breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren somatischer, affektiver, kognitiver und psychosozialer Art, die zu der gemeinsamen Endstrecke Fatigue führen.

Als zugrunde liegende pathophysiologische Faktoren werden diskutiert:

  • Störungen der zirkadianen Melatoninsekretion und des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Dysregulation inflammatorischer Zytokine
  • Veränderungen im serotoninergen System des ZNS
  • Störung hypothalamischer Regelkreise sowie
  • Genpolymorphismen für Regulationsproteine der oxidativen Phosphorylierung der Signaltransduktion in B-Zellen, der Expression proinflammatorischer Zytokine und des Katecholaminstoffwechsels [7].

Symptome und Erfassung

Fatigue kann als Sammelbegriff verstanden werden, der eine Vielfalt vonMüdigkeitsmanifestationen umfasst, welche sich in überwiegend physische, aber auch in affektive und kognitive Sensationen klassifizieren lassen ( Tab. 1). Entsprechend der Leitlinie des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) sollte  im Rahmen der onkologischen Betreuung Symptome der Erschöpfung oder Müdigkeit bei allen TumorpatientInnen gezielt exploriert werden. Dabei sollte beachtet werden, dass die subjektiv geäußerten Beschwerden häufig nicht objektivierbar sind; wenn doch, erreichen sie selten den von PatientInnen geäußerten subjektiven Schweregrad. Ergänzend zur Objektivierung kann das Führen eines Symptomtagebuchs empfohlen werden. Als Screeninginstrumente lassen sich eine lineare Analogskala (LASA-Skala Bereich 0-10) oder dafür geeignete diagnostische Fragebögen einsetzen [8]. Die zentrale Rolle in der diagnostischen Vorgehensweise nimmt das anamnestische Gespräch ein, in welchem genau die Art, Ausprägung und der zeitliche Verlauf der Beschwerden erfragt und auf mögliche Zusammenhänge mit vegetativen Funktionen geachtet werden sollte, wie z. B.:

  • Körperliche Aktivität
  • Schlafverhalten
  • Medikation
  • Gebrauch von Genuss- und Rauschmitteln

Kriterien klinischer Diagnostik von Fatigue

Fatigue wird bei Krebspatienten oft nicht erkannt oder zu wenig beachtet. Von der American Fatigue Coalition wurde ein Symptomkatalog veröffentlicht, um die Erfassung von Fatigue zu vereinheitlichen. Zur Feststellung einer CrF kann dieser Kriterienkatalog wie folgt herangezogen werden: Sechs (oder mehr) der elf in Tab.  2 aufgeführten Symptome bestanden täglich bzw. fast täglich während einer Zwei-Wochen-Periode im vergangenen Monat und mindestens eines der Symptome ist deutliche Müdigkeit (A1). Wenn sechs der aufgeführten Symptome vorliegen, gilt ein Fatigue-Syndrom als gesichert. Dabei müssen die Kriterien B, C und D vom behandelnden Arzt beurteilt werden.

Ursachen und differentialdiagnostische Abklärung

Grundsätzlich müssen sich Arzt und Patient darüber im Klaren sein, dass es nicht immer gelingt, der Müdigkeit eine greifbare Ursache zuzuordnen. Bei der differentialdiagnostischen Abklärung müssen somatische Erkrankungen von Leber, Niere, Endokrinum und Knochenmark ebenso ausgeschlossen werden wie tumorbedingte Ursachen (z. B. Schmerz, Mangelernährung, Elektrolytstörungen etc.,Tab. 3). Die Erfahrung im Umgang mit CrF-Patienten zeigt, dass bei vielen keine eindeutige psychosoziale oder somatische Ursache identifiziert werden kann. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Beschwerden von Ärzten und  Therapeuten als nicht „legitim“ abgetan werden. Vielmehr ist es gerade in diesen Situationen wichtig, die Symptome und Belastungen ernst zu nehmen und Gesprächs- und Handlungsbereitschaft zu signalisieren.

Fatigue und/oder Depression erkennen

Neben Angst stellt Depression die häufigste seelische Begleiterkrankung bei malignen Tumorleiden dar. Aus therapeutischer Sicht erscheint es notwendig, bei Patienten mit einer Müdigkeitssymptomatik zu unterscheiden, welcher Anteil daran auf eine primäre Tumorfatigue zurückgeht, in wieweit sich eine depressive Entwicklung dahinter verbirgt oder ob beide Aspekte zusammenwirken. Die differentialdiagnostische Abgrenzung von der Depression und/oder der depressiven Krankheitsverarbeitung fällt häufig schwer. Der Übergang ist eher fließend, da nahezu jedes Merkmal des chronischen Fatigue-Syndroms auch bei der Depression wieder zu finden ist. Die Tumorentität und die Art der Behandlung können dabei Anhaltspunkte geben. Es wurde festgestellt, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage häufiger und mit größerer Intensität auftritt, aber auch, dass Fatigue eine Depression induzieren und verstärken kann. Eine klare Unterscheidung zwischen Depression und Fatigue ist somit nicht immer vollständig möglich.  Die Vorgeschichte des Patienten gibt Hinweise darauf, in wieweit es bereits früher Episoden einer depressiven Verstimmung gegeben hat oder ob das Müdigkeitsgeschehen erstmalig im Kontext der Tumorerkrankung aufgetreten ist und einer depressiven Verstimmung vorausging. Wenn die Antriebsminderung stark ausgeprägt ist und andererseits auffällige Tendenz zur Selbstentwertung mit Suizidgedanken vorliegt, spräche diese Symptomatik für ein depressives Geschehen. Überwiegend körperlich empfundene Erschöpfung und Schwäche trotz ausreichenden Schlafes sind eher charakteristisch für das Fatigue-Syndrom. Das Vorliegen von Depressionen in der Anamnese, betonte Antriebsminderung, fehlende Motivation, Schlaflosigkeit, tageszeitliche Schwankungen, Tendenz zur Selbstentwertung, schuldhafte Verarbeitung und Suizidalität sind richtungweisend für das Vorliegen einer Depression [9]. Zudem können psychische Faktoren wie starke Ängste in Bezug auf die Erkrankung, eine fehlende Unterstützung in der Familie oder Partnerschaft, drückende finanzielle Sorgen oder anderer schwerer Kummer den Patienten so belasten, dass er in einen starken Erschöpfungszustand gerät. Die Symptome der Fatigue können auf eine hintergründige Depression („Erschöpfungsdepression“) oder Angststörung hinweisen und/oder sich mit den Symptomen einer körperlichenErschöpfung überlappen. In nahezu allen Untersuchungen korrelieren Müdigkeits- und Erschöpfungssymptome mit denen einer Depression . Das ist nicht verwunderlich , weil Ermüdbarkeit und Antriebsmangel zu den Hauptsymptomen depressiver Störungen zählen. Für die rasche und sensitive Erkennung einer depressiven Störung als mögliche Ursache einer CrF empfiehlt sich in der Praxis der „2-Fragen-Test“.

Frage1:  „Fühlten sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?“

Frage 2: „Hatten sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die sie sonst gerne tun?“

Wenn beide Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine depressive Störung vor, die weitergehend abgeklärt und behandelt werden sollte [10]. Manchmal bedarf es auch erst der Verlaufsbeobachtung unter therapeutischen Maßnahmen, um klarer zwischen Depression und Fatigue unterscheiden zu können.

Fatigue und/oder Depression behandeln

Aus therapeutischer Sicht erscheint es heute notwendig, bei Patienten mit einer Müdigkeitssymptomatik eindeutig zu differenzieren. Welcher Anteil geht dabei auf eine primäre Tumorfatigue zurück und inwieweit verbirgt sich eine depressive Entwicklung dahinter? Oder wirken sogar beide Aspekte zusammen? So ist vielfach beobachtet worden, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage häufiger und stärker ausgeprägt auftritt und  tatsächlich eine Depression induzieren oder verstärken kann. Interventionsstudien mit Antidepressiva haben bislang keine Verbesserung der CrF gezeigt und sollten deshalb nur bei klarer Abgrenzung beziehungsweise eindeutiger Depressions-Diagnose eine Behandlungsmöglichkeit darstellen.

Multimodale Therapieansätze von Fatigue

Durch normale Erholungsmechanismen, wie z. B. Schlaf, lässt sich die Tumorerschöpfung nicht beheben. Entscheidend für die effektive Behandlung sind interdisziplinäre Therapiestrategien. Für Teilaspekte von Fatigue gibt es vielversprechende Behandlungsansätze, doch bisher war es nicht möglich eine umfassende Therapie zu entwickeln,  mit der Fatiguebetroffene Patienten zufriedenstellend behandeltwerden können.  So multifaktoriell die Symptome der Fatigue beschrieben werden, so unterschiedlich sind auch die therapeutischen Ansätze. Je nach Ursache ist ein Behandlungsplan aufzustellen, der die besonderen individuellen Gegebenheiten des Betroffenen  berücksichtigt (Tab.3). Körperliche oder psychische Erkrankungen mit dem Begleitphänomen Fatigue müssen gezielt kausal behandelt werden [11]. Zur Behandlung der CrF werden aktuell Medikamente mit sehr unterschiedlichen Wirkprinzipien eingesetzt [12]:

  • Bluttransfusionen,
  • die Erythropoese stimulierende Faktoren,
  • Psychostimulantien (z. B. Methylphenidat oderModafinil),
  • Kortikosteroide

Körperliches (aerobes) Training

In allen Phasen der Krebserkrankung ist ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung bis zur palliativen Situation für Patienten, die dazu in der Lage sind, dosiertes Bewegungstraining unter kontrollierten Bedingungen indiziert. Die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) und die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG) haben bereits 2011 Richtlinien für die Gestaltung von Trainings-und Sportprogrammen für Tumorpatienten veröffentlicht. Sport- und Bewegungstherapie vermindert Fatigue, steigert die Immunabwehr, regt die Blutbildung an, beugt Infektionen vor, erhält die Muskelmasse und verbessert die Herz-Kreislauf-Funktion. Die Komorbidität kann durch regelmäßige Bewegung verringert, die Verträglichkeit der Therapiemaßnahmen verbessert werden. Darüber hinaus korreliert die physische Aktivität von Krebspatienten in einigen Studien mit einer verringerten Rezidivrate [13] Insgesamt kann durch Sport- und Bewegungstherapie die Lebensqualität erhöht werden.

Dennoch wird auch heute nochPatienten aufgrund der Belastung durch die Krebserkrankung und deren Behandlung von einer zu starken körperlichen Aktivität abgeraten. Dies führt in Folge dessen zu Bewegungsmangel und zu einer Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit mit folgenden Symptomen

  • Verringerung der Muskelmasse und des Plasmavolumens
  • Reduzierung der in der Muskelmasse gespeicherten chemischen Energieträger
  • Abnahme der kardiorespiratorischen Leistungsfähigkeit

Aufgrund der schnelleren Erschöpfbarkeit reduzieren Betroffene häufig die körperliche Aktivität weiter und vermindern damit ihre  Leistungsfähigkeit.So entsteht ein gefährlicher Teufelskreis aus den Nebenwirkungen der medizinischen Behandlung und den negativen Folgen des Bewegungsmangels. Körperliches (aerobes) Training als therapeutische Maßnahme gegen Fatigueist daher klar indiziert [14]. Besonders die Effizienz eines aeroben Ausdauertrainings wie z. B. Walken, Nordic Walken, Joggen, Aquatraining und Schwimmen zur Behandlung des Fatigue-Syndroms konnte in verschiedenen Studien bestätigen werden [15]. Aerobes Training ist inzwischen ein etablierter Ansatz zur Behandlung eines krankheitsbedingtenLeistungsverlustes. Es erfüllt drei Voraussetzungen:

  • Große Muskelgruppen werden bewegt
  • die Belastungsintensität liegt zwischen 70 bis 80 % der maximalen Belastbarkeit (die Energiebereitstellung erfolgt über den aeroben Stoffwechsel)
  • die Belastung erstreckt sich über eine ausgedehnte Zeit

In Deutschland liegen bislang nur wenige konkrete Übungsprogramme vor, die eigenständig von den Betroffenen durchgeführt werden können. Die Empfehlung liegt bei mindestens 30 Minuten Ausdauersportarten, wie z. B. schnelles Gehen, Joggen oder Fahrradfahren an mindestens fünf Tagen pro Woche [15].. Adaptiert an den Behandlungsstatus (Operation, medikamentöse Therapie oder Strahlentherapie) sollte in Zusammenarbeit mit erfahrenen Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern ein spezielles patientenindividuelles Programm erstellt werden. Das Training sollte langsam beginnen und möglichst Flexibilitäts-, Ausdauer-, Kraft- und Koordinationskomponenten in Abhängigkeit von der Krankheitsphase, dem Trainingsziel und den individuellen physischen Möglichkeiten der Patienten enthalten [16].

Etabliert ist das Übungsprogramm „Fitness trotz Fatigue – Bewegung und Sport bei tumorbedingtem Müdigkeitssyndrom“, welches von der „Deutschen Fatigue Gesellschaft“ in Zusammenarbeit mit der „Rehabilitationswissenschaftlichen Abteilung der Sportschule Köln“ entwickelt wurde. Zwar haben sich Sport- und Bewegungsprogramme als unterstützende Maßnahmen während oder unmittelbar nach der Behandlung etabliert, aber sind bisher noch  nicht flächendeckend in die onkologische Versorgung integriert.

Psychoonkologische Beratung und Begleitung

Die Psychoonkologische Beratung vermittelt Betroffenen mit Fatigue-Syndrom einerseits Sachinformationen, wie z. B. zu demKrankheitsentstehungsmodell sowiezu den Ursachen, Formen unddemVerlauf der Fatigue und ist andererseits als Orientierungshilfe anzusehen. Ziel ist es, den Patienten dabei zu unterstützen, seinen Lebensstil und  Lebensführung an die veränderten individuellen Bedingungen anzupassen (Anleitung zur Verhaltensänderung). Die Beratung zur Prävention oder Linderung der Fatigue beinhaltet u. a.:

  • Hilfe bei der Umstrukturierung des früher normalen Tagesablaufes. Besonders die Tätigkeiten, die Energie kosten, müssen in die energetischen Hochphasen verlegt werden und sich mit Ruhephasen oder Energiespendern abwechseln (Stundenplan nach Aktivitätsniveau, strukturierte tägliche Routine, Prioritäten im Leben setzen). Der Einsatz eines Fatiguekalenders bietet dabei die Möglichkeit, die tageszeitlichen Energiekurven kennenzulernen und zu nutzen. Als Energiespender kommen beispielsweise Meditation und Yoga in Betracht.
  • Einbeziehen der Angehörigen in die Erarbeitung der verschiedenen Bewältigungsformen. Die Erschöpfung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen stellt nicht nur für die Patienten, sondern auch für ihre Partner, Familie und Freundeskreis eine große Herausforderung dar. Gemeinsam können Muster erarbeitet werden, wie im täglichen Leben die Kräfte sinnvoll eingeteilt  und Energie eingespart werden kann.
  • Information zur Schlafhygiene, zur Stimuluskontrolle und zur Einteilung des Schlafes (z. B. keine langen Schlafperioden nachmittags, regelmäßig zu Bett gehen, kein Koffein etc.). Etablierung eines regelmäßigen Schlafrhythmuses, der beim Versagen allgemeiner Maßnahmen ggf. mittels Medikamenten zum Ein- bzw. Durchschlafen reguliert werden kann.
  • Anleitung zu Erholung und zum bewussten Einsatz von Ablenkungsstrategien: z. B. Naturerlebnisse, Musik hören, Spiele etc. verbessern das Konzentrationsvermögen und die Problemlösefähigkeit (kognitive Fatigue).
  • Aufklärung über Schulungsmaßnahmen bei der Einschränkung kognitiver Fähigkeiten (das Gehirn sollte wieder an Denkprozesse gewöhnt werden, einfache schulische Maßnahmen scheinen hier weiterzuhelfen).
  • Ernährungsberatung mit dem Ziel, Mangelernährung zu vermeiden oder zu behandeln (adäquate Nährstoffzufuhr, Elektrolytbalance, Flüssigkeitszufuhr).
  • Beratung der Patienten zur körperlichen Aktivitätssteigerung (u. a. Anleitung und Training zu aeroben Sportarten).

Die Anerkennung des Erschöpfungszustands als Befindlichkeitsstörung von Krankheitswert ist Basis für die psychoonkologische Beratung und Behandlung von Betroffenen  mit Fatigue-Syndrom. Für die Patienten ist die Einordnung von Fatigue im Kontext der Erkrankung sowie der sozialen Rollen und der Persönlichkeit von größter Bedeutung. Erst wenn der Betroffene dieses Symptom als erkrankungs- und therapiebedingt akzeptieren kann, wird er sich von schuldhafter Verarbeitung und Kränkung distanzieren können. Auf dieser Grundlage können im Weiteren individuelle Bewältigungsstrategien erarbeitet werden.

Psychoonkologische Interventionen: Motivationspsychologische Prinzipien

Grundlage der psychoonkologischen Interventionen von Patienten mit Fatigue-Syndrom sind die folgenden motivationspsychologischen Prinzipien:

  • Stärkung des Selbstmanagements. Die Patienten werden selbst in die Lage versetzt, das Maß an Selbstbestimmung und Autonomie im Zusammenhang mit dem Problem Fatigue zu erhöhen und eigene Ressourcen zu nutzen. Die Patienten erleben, dass sie zur Verbesserung ihrer Situation etwas beisteuern können.
  • Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung. Die Selbstwirksamkeitserwartung wird durch direkte Erfahrung gestärkt, indem sich die Patienten realistische Ziele setzen, die Umsetzung selbst überwachen und nach einem Feedback ihre Ziele oder ihr Vorgehen anpassen.
  • Ressourcenorientierung. Die Patientenwerden ermuntert, stärker als bisher sich ihrer Ressourcen bewusst zu werden und sie zu nutzen.
  • Einbeziehung des beruflichen und sozialen Umfelds (Partner, Familie und Freundeskreis).

Psychoonkologische Interventionen: Bewältigungsstrategien

Zielsetzung der psychoonkologischen Begleitung ist es, die Alltagshandlungsfähigkeit und Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Psychoonkologische Interventionen beim Fatigue-Syndom fokussieren vor allem auf:

  • Problemwahrnehmung. Die Patienten sollen die Fatigue als Problem wahrnehmen und die Hintergründe kennen.
  • Konsequenzen erkennen. Die Patienten sollen die Auswirkungen von Fatigue auf ihren Alltag und ihre sozialen Beziehungen erkennen.
  • Motivationsarbeit. Die Patienten sollen zur Änderung von Verhaltensweisen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten motiviert werden.
  • Selbstwirksamkeitserwartung. Die Patienten sollen erkennen, dass sie selbst etwas zur Linderung der Fatigue und zur Verbesserung des Umgangs mit den von der Fatigue verursachten Einschränkungen beitragen können.
  • Handlungsplanung. Die Patienten sollen sich sowohl Ziele setzen, als auch deren Umsetzung planen und in Angriff nehmen.
  • Handlungskontrolle. Die Patienten prüfen die Umsetzung und berichten über Erfolge und Hindernisse bzw. Probleme.

Psychoedukative Schulungsprogramme

Die Wirksamkeit strukturierter Schulungsprogramme bei CrF wurde bisher nur wenig untersucht [17]. Es mangelt an prospektiven Untersuchungen mit ausreichend hohen Fallzahlen, die psychoedukative Schulungsprogramme evaluieren [18]. Spezifische Schulungen, die dem Bedürfnis der Patienten nach gezielter Aufklärung und Information entgegenkommen und die tumorbedingte Fatigue reduzieren sowie die Lebensqualität der Betroffenen steigern sollen, sind in Deutschland derzeit (noch) nicht etabliert. Hier besteht eine erhebliche Versorgungslücke! Es ist z. T.  bekannt, dass vorhandene Informationsmaterialien Patienten entweder nicht erreichen oder die Information ohne eindeutige Anleitung nicht angemessen individuell umgesetzt werden können. Die Einführung eines spezifischen Schulungsprogramms könnte einerseits durch angemessene Information und andererseits durch individuelle Hilfestellung und praktische Anleitung bei der Umsetzung, d.h. bei der Verhaltensänderung der Betroffenen, zukünftig Abhilfe schaffen.

Zusammenfassung

Fatigue ist ein häufiges, vielfach stark unterschätztes Syndrom bei Tumorpatienten. Die Ursachen und die Entstehung der CrF sind komplex. Sie ist gekennzeichnet durch abnehmende Leistungsfähigkeit, Vermeidung von Anstrengung, Inaktivität, fehlende Regeneration, Hilflosigkeit und Herabgestimmheit. Die Betroffenen finden nur schwer aus diesem Teufelskreis heraus. Die  vollständige Beeinträchtigung des Patienten spiegelt die Multidimensionalität dieses Phänomens wieder. Die Wahrnehmung von Fatigue-Manifestationen und das alltägliche Screenen – respektive die Nachfrage nach Müdigkeit – sollte routinemäßig zur onkologischen Versorgung gehören.

Ein umfassendes Angebot zur Behandlung der multifaktoriell ausgeprägten Fatigue einschließlich der psychischen, emotionalen und kognitiven Facetten fehlt bisher im klinischen Alltag. Für Teilaspekte von Fatigue gibt es inzwischen vielversprechende Therapieansätze, doch fehlt aktuell ein umfassender Therapieansatz, mit der Fatigue zufriedenstellend behandelt werden kann. Die Therapie gliedert sich in Aufklärung, praktische Hilfestellungen, Umstellung der Lebensgewohnheiten und medikamentöse Ansätze. Dabei sollten die Angehörigen der Patienten unbedingt mit eingebunden werden, um die Akzeptanz zu erhöhen und so den Therapieerfolg zu sichern.

Vorhandene Informationsmaterialien erreichen die Betroffenen häufig nicht. Insbesondere fehlen strukturierte psychoedukative Schulungs- bzw. Interventionsangebote, um spezifisches Wissen zu vermitteln und Anleitung zu Verhaltensänderungen zu geben.

Weiterführende Informationen

Deutsche Fatiguegesellschaft e.V.
Maria-Hilf-Straße 15
50677 Köln
T +49 221 9311596
www.deutsche-fatigue-gesellschaft.de

Slide Gyne 03/2016 Fatigue bei Krebspatienten – Erscheinungsformen, Ursachen, Behandlung

Literatur

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  9. Kim et al. Prevalence and correlates of fatigue and depression in breast cancer survivors: Breast cancer quality care study. J Clin Oncol. 2006 Jun;24(18S):683.
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  11. Cella D F. Factors influencing quality of life in cancer patients: anemia and fatigue. Semin Oncol. 1998 Jun;25(3 Suppl 7):43-6.
  12. Lundström and Fürst.The use of corticosteroids in Swedish palliative care. Acta Oncol. 2006;45:430–-7.
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  13. Wolin et al. Physical Activity and Colon Cancer Prevention: A Meta-analysis. Br J Cancer. 2009 Feb 24;100:611–616.
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  20. Deutsche Krebsgesellschaft (Hrsg.) Sport und Krebs. Kann man dem Krebs davonlaufen? FORUM, Band 26, Ausgabe 03.2011.Kim S H, Park B W, Ahn S H,
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  21. Siegmund-Schultze N (2009) Onkologie: „Sport ist so wichtig wie ein Krebsmedikament“. Dtsch Arztebl 106 (10): A-444.

Gyne 02/2016 – Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Gyne 02/2016
„Irgendwoher muss es doch kommen!“ – Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Autorin: Claudia Schumann

 

Ein typisches und häufiges Beschwerdebild in der Praxis sind anhaltende Schmerzen ohne eindeutige somatische Erklärung. Dabei überwiegen die weiblichen Patientinnen. Als Ursachen für diesen Geschlechterunterschied werden „v.a. geschlechtsspezifische Unterschiede in der Assoziation mit psychischen Störungen und Traumata, in der Verarbeitung, Interpretation und Kommunikation von Körperreizen, in der Entwicklung von Krankheits- und Gesundheitskonzepten und –verhalten“ angenommen [1]. Prävalenz-Erhebungen aus den USA zeigen, dass 15% aller Frauen von chronischem Unterbauchschmerz betroffen sind [2], für Europa werden ähnliche bzw. eher noch höhere Zahlen vermutet  [3]. Auf die Mehrzahl dieser Frauen passt die Definition der „somatoformen Schmerzstörung“ nach ICD 10 / F 45.4: „ Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder (mehr als sechs Monate), schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf,  die schwerwiegend genug sein sollten, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können.“ 

Die Schmerzen quälen nicht nur die Betroffenen, sie machen auch die behandelnden Ärzte und Ärztinnen oft ratlos: Was tun? Wie umgehen mit dem Erwartungsdruck? „Patienten sind oftmals frustriert und verunsichert, da sie unter den Beschwerden zum Teil erheblich leiden, es aber scheinbar keine Erklärung bzw. Behandlung für sie gibt, und Behandler befürchten, eine ernsthafte somatische Erkrankung zu übersehen“ – heißt es im einleitenden Statement der S3-Leitlinie „Nicht spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden“.
Im Folgenden beschränke ich mich auf den chronischen Unterbauchschmerz, eines der häufigsten Schmerzsyndrome bei Frauen im fertilen Alter. Dabei geht es mir vor allem um die „Fallstricke“ der Arzt-Patientin-Beziehung, die Einschätzung des Schweregrades  und um konkrete Strategien für die Praxis.
Bezugsrahmen der Ausführungen sind vor allem die aktuellen Leitlinien allgemein zu den somatoformen Schmerzstörungen [4,5] und speziell zum chronischen Unterbauchschmerz [6].

Kasuistik 1: „Ich hoffe, SIE können mir endlich helfen!?“ – Teil 1

Lena S., 21 Jahre, hat wegen ihrer starken Unterleibsschmerzen in den letzten zwei Jahren schon drei Laparoskopien hinter sich. Die Diagnose Endometriose ist histologisch gesichert, kleinere Endometriose-Herde wurden operativ entfernt. Die Schmerzen treten trotzdem immer wieder auf. Fünf Gynäkologen hat sie konsultiert, zuletzt einen „Spezialisten“ in der 100km entfernten Großstadt. Auch der hatte keine Lösung parat. Jetzt sitzt sie mit akuten Schmerzen zum ersten Mal erwartungsvoll in meiner frauenärztlichen Praxis: „Sie sollen sich ja mit Endometriose auskennen!“ Sie hat eine lange Liste der verschiedenen Hormonpräparate dabei, nichts habe auf Dauer geholfen; die Hormonspirale wurde wegen Dauerblutung und Schmerzen nach drei Monaten wieder gezogen. Die Ausbildung hat sie wegen der Fehlzeiten abbrechen müssen, auch stundenweise Jobs schafft sie nicht, sie ist dauernd erschöpft und der Freund hat sich getrennt. Jetzt lebt sie allein, finanziell unterstützt vom Arbeitsamt.

Lena S. ist eine schlanke hübsche sympathische junge Frau, die mit einem eingefrorenen Dauer-Lächeln ihre ganze Misere schildert: die lieblose Kindheit nach der frühen Trennung der Eltern, das frühe „Allein-gelassen-Sein“, als die Mutter mit dem neuen Partner zusammenzog und sie „nur störte“, die dauernde Entwertung und ihr Kampf dagegen. Dass man etwas gefunden hat als Ursache der Schmerzen– die Endometriose – findet sie gut; und ist enttäuscht, dass sich das nicht einfach wegmachen lässt. Am liebsten würde sie sich noch einmal operieren lassen. (Fortsetzung weiter unten)

Ätiologie und Risikofaktoren des chronischen Unterbauchschmerzes

Beim chronischen Unterbauchschmerz muss man eine Vielzahl möglicher körperlicher Ursachen bedenken: Endometriose, Myome, Adhäsionen, Ovarialcysten, Colon irritabile, maligne Erkrankungen, Reizblase, Rückenerkrankungen u.a.. Auch bei gründlicher Untersuchung incl. Bildgebung und Bauchspiegelung lässt sich oft kein eindeutiges Korrelat für die Beschwerden finden. Aber selbst wenn man eine körperliche Ursache – z.B. Endometriose-Herde – findet, gibt es oft genug eine Diskrepanz zwischen dem körperlichen Befund und der angegebenen andauernden Schmerzsymptomatik.

Dafür gibt es keine eindeutigen Erklärungen. Aber wir kennen Risikofaktoren für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms; dazu zählen vor allem Stressfaktoren in der Kindheit [1], die den Aufbau einer „sicheren Bindung“ beeinträchtigen, wie emotionale Vernachlässigung, psychische Erkrankung der Eltern, und auch Gewalterfahrung jeglicher Art. Für die Entwicklung speziell des chronischen  Unterbauchschmerz werden in einer großen  Metaanalyse [2] körperliche wie seelische Risikofaktoren benannt: Adhäsionen (nach Entzündung), Endometriose, Z.n.Sektio, Z.n.Abort, körperlicher oder seelischer Missbrauch, Angst, Depression. Kein Zusammenhang wurde nachgewiesen mit Ausbildungsstand, Familienstand, Erwerbstätigkeit, Parität, und Infertilität. Abschließend bedeutet das für die Diagnostik, dass körperliche wie seelische Faktoren in gleicher Weise im Auge behalten werden müssen.

Die Beziehung zwischen Patientin und Ärztin/Arzt

Die Behandler-Patientin-Beziehung wird oft schon von Anfang an und von beiden Seiten als schwierig erlebt. Typischerweise werden folgende Gefühle beim Behandler ausgelöst [5]:

  • Hilflosigkeit, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Scheitern
  • Gefühl, erst idealisiert und dann entwertet zu werden
  • Entscheidungsdruck, Getäuscht-Fühlen, Entlarven-Wollen; sich unter Druck gesetzt fühlen
  • Machtkampf, Ohnmachtserleben, Manipulation
  • Langeweile, Ungeduld, Enttäuschung, Wut, Ärger,
  • Frustration, Ablehnung der Patientin; Wunsch, sich zu entziehen.

Das muss man wissen, bedenken und sich darauf einstellen bzw. die Gegenübertragung bewusst nutzen! Der Aufbau einer (trotzdem) tragfähigen Beziehung schon bei der Anamnese ist das A und O der Behandlung. Dabei geht es um eine „gelassene, empathische, aktiv-stützende, symptom- und bewältigungsorientierte Grundhaltung“ [7], kurz:  ein professionell-gelassener Umgang mit der „schwierigen Patientin“. Wenn das nicht gelingt besteht die Gefahr des „doctor-hoppings“ (wie bei der von mir geschilderten jungen Frau), weil die Patientin sich immer wieder un- oder falsch verstanden fühlt und ihre (unrealistisch) hohen Erwartungen nicht erfüllt, aber auch nicht auf ein realistisches Maß reduziert werden.
Die Beschwerden sollten ausführlich geschildert und ernst genommen werden, im Sinn des „aktiven Zuhörens“ sollten Interesse und Akzeptanz signalisiert werden. „Mit psychosozialen Themen soll zunächst beiläufig und indirekt statt konfrontativ umgegangen werden, zum Beispiel durch das Begleiten des Wechsels zwischen Andeuten psychosozialer Belastungen und Rückkehr zur Beschwerdeklage  (“tangentiale Gesprächsführung“) [5]. Zusätzlich zu den spontan geschilderten Körperbeschwerden sollte gezielt nach anderen Leitsymptomen der somatoformen Schmerzstörung gefragt (chronische Müdigkeit, diffuse Rückenschmerzen u.a.) und die „Funktionsfähigkeit im Alltag“ eruiert werden.

Simultan-Diagnostik: bio-psycho-sozial

Im Sinne einer bio-psycho-sozialen Grundhaltung sollte immer eine „Simultandiagnostik“ erfolgen, also ein „sowohl-als auch“ signalisiert werden statt einem „entweder-oder“. Laut Leitlinie gilt sogar: Ein „Abwarten somatischer Ausschlussdiagnostik trotz Hinweisen auf psychosoziale Belastungen ist kontraindiziert“ [5]. Der Zusammenhang zwischen Unterbauchschmerzen und Depression ist unklar: Zwar konnte in der WHO-Metaanalyse ein stat. signifkanter Zusammenhang zwischen Depression und Unterbauchschmerz nachgewiesen werden [2], andrerseits kann man auch die depressive Symptomatik als Reaktion auf den chronischen Schmerz interpretieren.
Gewalterfahrungen werden anamnestisch deutlich gehäuft gefunden, wobei die Datenlage   unterschiedlich ist. Einige Studien haben ergeben, dass 40–60% der Frauen mit chronischem Unterbauchschmerz ohne körperliches Korrelat in der Anamnese sexuell oder körperlich missbraucht wurden [8,9]. Eine prospektive Studie bei Kindern, die Opfer von Gewalttaten waren, ergab allerdings kein vermehrtes Auftreten ungeklärter Schmerzsyndrome [10]. Insgesamt ist gesichert, dass körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrung ein Risikofaktor für die Entwicklung eines chronischen Unterbauchschmerzes, aber der Zusammenhang nicht zwingend ist.

Auch wenn psychosoziale Belastungen eindeutig im Vordergrund zu stehen scheinen oder es sogar Hinweise auf eine sexuelle Traumatisierung gibt, darf die körperliche Abklärung nicht entfallen. Die Frau hat körperliche Schmerzen, sie erwartet und braucht eine Be-HAND-lung im wahrsten Sinne des Wortes. Eine sorgfältige körperliche Untersuchung, ergänzt um die gynäkologische Untersuchung incl. vaginalem Ultraschall sind oft aufschlussreich: Was tut wie weh? Welche Vorstellungen hat die Frau? Diffuse Ängste können oft schon in dieser Phase reduziert werden durch beruhigende Erklärungen.

Wichtig sind die Transparenz aller Untersuchungsschritte und die gemeinsame weitere Planung: Kann man zunächst abwarten, weil die Situation aktuell nicht bedrohlich bzw. die Beschwerden aushaltbar sind, oder ist eine weitere Abklärung notwendig? An erster Stelle steht hier die diagnostische Bauchspiegelung. Zusammen mit der Patientin wird geklärt, wann und warum  eine Bauchspiegelung sinnvoll und was dabei zu erwarten ist. So können Voroperationen oder Unterleibsentzündungen evtl. zu Verwachsungen geführt haben, eine starke Dysmenorrhoe kann Hinweis sein auf eine Endometriose; aber es kann sich auch trotz Schmerzen ein „Normalbefund“ finden.
Im Anschluss an die operative Diagnostik ist eine ausführliche Befundbesprechung wichtig mit einer Wertung der Befunde, denn die Korrelation zwischen „Befund“ und „Schmerz“ ist oft nicht eindeutig.

Gefahr der iatrogenen Chronifizierung

So sollte es sein – denn bekannt ist andererseits: Das ärztliche Behandlungsverhalten kann einen Beitrag leisten zur Chronifizierung der Symptomatik! Und viele Frauen haben schon eine Odyssee hinter sich und sind entsprechend verunsichert bzw. fixiert auf die Symptomatik durch eine rein somatische Behandlung. Zu den bekannten „iatrogenen Chronifizierungs-faktoren“ in Diagnostik und Therapie gehören [5]:

  • einseitiges biomedizinisches oder psychologisierendes Vorgehen
  • Über-Diagnostik, Überschätzen medizinischer Befunde,
  • Mangelnde oder stigmatisierende Information („Sie haben nichts“, „alles nur psychisch“)
  • Förderung passiver Therapiekonzepte (Operationen, Injektionen, Massage, lange Krankschreibung)
  • Unzureichende analgetische Behandlung; unkritische Verschreibung von suchtfördernden Medikamenten

Einschätzen des Schweregrads

Im Umgang mit Frauen mit chronischem Unterleibsschmerz ist es sehr hilfreich, nach prognostisch günstigen Faktoren („green flags“)  zu suchen bzw. nach Hinweisen für einen schweren Verlauf („yellow flags“)[11]. Denn in Abhängigkeit von diesen Hinweiszeichen kann man die weitere Behandlung besser planen.

Zu den „green flags“ gehören:

  • Aktive Bewältigungsstrategien (z. B. körperliches Training)
  • Gesunde Lebensführung (ausreichend Schlaf, gute Ernährung)
  • Sichere Bindungen; soziale Unterstützung
  • Gute Arbeitsbedingungen
  • Gelingende Arzt-Patientin-Beziehung
  • Klinische Charakteristika für einen eher schweren Verlauf („yellow flags“) können sein:
  • Mehrere Beschwerden (Unterleibsschmerz + chron. Müdigkeit + Kopfschmerz +..)
  • Häufige bzw. anhaltende Beschwerden (d.h. die Frau ist selten beschwerdefrei)
  • Dysfunktionale Gesundheits-/ Krankheitswahrnehmung (z.B. katastrophisierendes Denken); „Ärzte-hopping“
  • Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit, lange arbeitsunfähig, sozialer Rückzug
  • Hohe psychosoziale Belastung, wenig Sozialkontakte
  • Psychische Komorbidität (Depression, Angststörung)

Kasuistik 1, Teil 2

Nachdem sich im Verlauf von zwei weiteren kurzfristigen Terminen ein klareres Bild ihrer schmerzhaften Erkrankung und der bio-psycho-sozialen Zusammenhänge ergeben hat und wir uns einig sind, dass eine erneute Bauchspiegelung keinen Sinn macht, verabrede ich  mit Lena S.  regelmäßige beschwerde-unabhängige Termine im Abstand von wenigen Wochen. Das klappt  auch nach und nach, die „Not-Termine“ werden seltener.
Es gelingt in langen Gesprächen, den „Teufelskreis“ von Schmerz / Anstrengung / Überlastung/ Enttäuschung sichtbar zu machen, und vor allem mit ihr zusammen die Ziele zu begrenzen: Nicht schmerzfrei, aber doch wieder so stabil zu werden, dass sie eine Ausbildung anfangen kann. Begleitend zu diesen eher stützenden psychosomatischen Terminen läuft eine psychotherapeutische Behandlung bei einer Psychologin, bei denen Gewalterfahrungen in der Kindheit bearbeitet werden.
Um ein besseres Körpergefühl zu bekommen empfehle ich ihr eine stationäre Reha-Maßnahme in einer Einrichtung, die auf die Behandlung von Frauen mit Endometriose spezialisiert ist. Dort fühlt sie sich zwar leider nicht sehr wohl, weil sie „keiner ernst nimmt“(!) – aber sie hält die Zeit durch und beginnt mit einem leichten Konditions- und Sporttraining, außerdem lernt sie Entspannungs-Techniken. Danach schafft sie ein halbjähriges Praktikum in einer Verwaltung, wo die Mitarbeiter um ihre „Anfälligkeit“ wissen, sie mögen und es akzeptieren, dass sie gelegentlich bei starken Schmerzen schon mittags geht. Sie ist sehr stolz über diesen Erfolg und möchte im Anschluss eine Ausbildung  beginnen.

Immer wieder ist das zentrale Thema in unseren Gesprächen: „Was wollen Sie, was trauen Sie sich zu, was hilft oder tut gut, und vor allem: Wer hilft?“ Sie geht aktiver mit ihrer schmerzbedingten Einschränkung um und lernt, die „Lächel-Maske“ gelegentlich abzusetzen und sich auch einmal trösten zu lassen. Die Beziehung zu ihrem Freund läuft wieder, Sex tut allerdings immer noch weh. Bisher ist keine weitere Operation erfolgt. Allerdings hat sie den letzten Termin abgesagt: Weil sie ihn nicht mehr braucht? Oder weil sie zur nächsten Ärztin gewechselt hat?

Therapie

Die Therapieziele beim chronischen Unterbauchschmerz sind wie bei allen somatoformen Schmerzstörungen begrenzt: Verbesserung der Lebensqualität, Verhinderung von Chronifizierung bzw. Begleitung bei eingetretener Chronifizierung, um selbstschädigendes, leider oft iatrogen mitgetragenes Verhalten zu reduzieren (rezidivierende operative Eingriffe, riskante Therapien). Letztlich geht es darum, mit der Frau „zu einem erweiterten Erklärungsmodell“ zu kommen „hin zu einem biopsychosozialen Modell“ [7].

Wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, wenn die Frau sich einlässt auf regelmäßige Gespräche und akzeptiert, dass viele kleine Schritte nötig sind statt einer großen Lösung – ist schon sehr viel gewonnen.

Das ist gerade bei leichteren Verläufen zu erreichen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung durch den betreuenden Frauenarzt/ die Frauenärztin oder den Hausarzt/ die Hausärztin. Es geht immer wieder darum, die Beschwerden ernst zu nehmen und sie anschaulich zu erklären als bio-psycho-soziales Syndrom: d.h. mit der Patientin die Faktoren zu finden, die die Schmerzen auslösen oder reduzieren können. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Symptome zwar belastend aber nicht gefährlich sind, dass es gilt damit einen adäquaten „gelassenen“ Umgang zu finden, und das der Behandler/ die Behandlerin dabei eine stabile verlässliche Begleitung anbietet. Hilfreich sind alle Möglichkeiten der körperlichen Aktivierung – leichter Ausdauer-Sport, Yoga, autogenes Training. Schmerzmedikamente können zeitlich beschränkt eingesetzt werden, meist sind sie allerdings wenig hilfreich. Bei spezifischen Befunden – z. B. Endometriose – muss natürlich die entsprechende medikamentöse Behandlung (z. B. Gestagen-Dauertherapie) eingesetzt werden, immer mit Hinweis auf eine evtl. nur begrenzte Wirkung.

Bei schwereren Verläufen – s.o. „yellow flags“ – kommt es noch mehr darauf an, den Teufelskreis zwischen Dauerschmerz – Anspannung – depressivem Rückzug – Drängen auf somatische (operative) Behandlung usw. zu unterbrechen. Wenn immer möglich, sollte die Behandlung multimodal in einem Team erfolgen. Unter Federführung eines psychosomatisch-versierten Arztes/ Ärztin geht es um eine Kombination aus Physiotherapie, Psychotherapie, Entspannungsverfahren, Sozial-Training u.a. Dafür braucht man natürlich ein Netzwerk mit einem entsprechenden Versorgungskonzept, in das die Akteure eingebunden sind und sich regelmäßig austauschen. Besonders schwierig kann die Motivation für eine Psychotherapie sein: Die Patientin „hat ja etwas“ – aber sie sieht sich nicht als „Fall für den Psychiater“!  Da kann gerade der somatische Arzt/ die Ärztin mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation die Weichen stellen. Wirksamkeitsnachweise gibt es für die kognitive Verhaltenstherapie, während für die anderen Psychotherapieformen die Datenlage nicht ausreichend ist.

Es gibt Situationen, in denen die ambulante Behandlung an ihre Grenzen stößt und eine stationäre Behandlung angezeigt ist. Das gilt natürlich bei akuter Selbstgefährdung (Suizidalität), aber auch bei besonders schwerem chronischen Schmerz, bei schwerer psychischer Ko-Morbidität, gelegentlich auch bei fehlender Behandlungsmotivation bzw. Fixierung auf das somatische Erklärungsmuster  und bei ausbleibendem Erfolg der ambulanten Behandlung. Im stationären Kontext kann es leichter gelingen, ein abgestimmtes multimodales Konzept der Schmerzbehandlung akzeptabel und wirksam zu machen. Wenn die Klinik speziell darauf ausgerichtet ist, “können  zuvor als therapieresistent geltende chronische Schmerzen im Zeitrahmen eines stationären Rehabilitationsaufenthaltes effektiv behandelt werden“ [12], d.h. die Wahl der „richtigen“ Klinik ist entscheidend.

Fall 2 oder: Der psychosomatische Ansatz lohnt sich

Frau W. ist inzwischen fast 80 Jahre alt. Mit Mitte 50 erkrankte sie an Vaginalkrebs, der strahlentherapeutisch erfolgreich behandelt wurde. Ich lernte sie kennen im Rahmen der sehr langwierigen Wundheilung, sie war eine der ersten Patientinnen in meiner frauenärztlichen Praxis. Nach Abschluss der Behandlung kam sie alle 3–4 Wochen notfallmäßig mit diffusen Schmerzen, mal drückend, mal brennend, für die sich kein fassbares Korrelat fand, die mich aber regelmäßig verunsicherten und ratlos machten. Immer wieder tastete ich alles ab, machte immer wieder Ultraschall, entnahm Abstriche, überlegte was das sein könnte, und machte mir Sorgen. Die Patientin ging jedes Mal sichtlich zufrieden weg, obwohl ich ihr keine rechte Erklärung geben konnte, bis auf: „Ich finde nichts, was nicht stimmt“. Ihre Dauer-Replik war: „Dann ist es ja gut“. Ich fühlte mich hilflos und ohnmächtig, stöhnte wenn sie sich anmeldete, wollte sie eigentlich los werden.

Nach Vorstellung dieses Falls in der Balintgruppe klärte sich: Es war die Angst, die dahinter steckte, und gleichzeitig ihr Unvermögen, das jemand mitzuteilen, denn ihr Mann wehrte alle Gespräche ab, weil sie ja wieder gesund sei.

Die Lösung war ein festes Therapiekonzept, in Absprache mit dem behandelnden Internist: Sie kommt alle drei Monate zu einem vereinbarten Termin. Dann erfahre ich, wie zwischenzeitlich ihr Leben ausschaut, höre mir gewissenhaft alle Beschwerden an: „Dann ist da noch etwas“ (Druckgefühl, Durchfall, Ausfluss, Abgeschlagenheit), untersuche sie gründlich körperlich, bestätige dass soweit alles in Ordnung ist bzw. dass die chronischen Beschwerden als Folge der Bestrahlung zu werten sind. Frau S. kommt niedergeschlagen und klagend in die Praxis und geht relativ zufrieden hinaus. Ich fühle mich nicht mehr unter Druck gesetzt, die Beschwerden  „wegmachen“ zu müssen, sondern habe meine Aufgabe angenommen als „Zeugin“ und als „Abladestelle“. Das reicht! Frau S. hat in den letzten 24 Jahren nie mehr einen Not-Termin verlangt, der regelmäßige Kontakt alle drei Monate reicht ihr. Und ich freue mich, sie begleiten zu können bei ihrem aktiven Älter-Werden.

Diskussion

Viele Frauen, die sich immer wieder in der haus- und frauenärztlichen Praxis mit unklaren Unterleibsbeschwerden vorstellen, haben eine somatoforme Schmerzstörung. Die Situation ist belastend für die Betroffenen und die Ärzte/ Ärztinnen, weil sich trotz der oft erheblichen Beschwerden, verbunden mit Einschränkungen in der Lebensführung,  kein eindeutig fassbares Korrelat findet. Es besteht die Gefahr des „Entweder-Oder“: Entweder wird immer wieder nach organischen Befunden gesucht, z.T. mit eingreifenden operativen Maßnahmen, oder die Frauen fühlen sich abgeschoben auf die Psycho-Schiene: „Sie haben nichts, das sind die Nerven“. Es besteht die Gefahr der Chronifizierung bzw. der Falschversorgung.

Das ist auch gesundheitspolitisch bedenklich. In der Leitlinie zur somatoformen Schmerzstörung [4] besteht starker Konsens: „Die Dauer, bis eine funktionelle Störung erkannt und eine spezifische Behandlung eingeleitet wird, beträgt durchschnittlich 3–5 Jahre“. Und weiter: “Bei Patienten mit schweren Verläufen nicht-spezifischer, funktioneller und somatoformer Köperbeschwerden finden sich eine relativ niedrige störungsspezfische Behandlungsquote von ca. 40% und eine relativ hohe „Nicht-Versorgungsquote“ von ca. 60 %“. Das führt zu einer hohen „dysfunktionalen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems“ [4].

Im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung, für die die meisten Haus- und Frauenärzte qualifiziert sind, besteht die Chance einer adäquaten Diagnostik und Behandlung. Grundlage dafür ist die Schaffung einer stabilen vertrauensvollen langfristigen Beziehung, damit sich die Patientinnen einlassen können auf die Mehrdimensionalität der Ursaschen ihrer Beschwerden und auch der Behandlung. Nur so lässt sich das „doctor-hopping“  eingrenzen. Wie schwierig das ist, weiß jede/r, der/die in der Praxis damit konfrontiert ist. Die Patientinnen haben spürbar hohe Ansprüche,  sie setzen unter Druck und sind selbst schnell enttäuscht. Das zu wissen, die Frau ernst zu nehmen und konsequent eine bio-psycho-soziale Haltung einzunehmen, kann der Beginn einer dann sehr lohnenden Beziehung sein. Das Wissen um „green“ bzw. yellow flags“ ist hilfreich, um die Schwere und die Therapieintensität einschätzen zu könne. Idealerweise gibt es zur Durchführung einer multimodalen Therapie ein lokales Netzwerk, in das man die Patientin  je nach Situation gezielt vermittelt. Die Kooperation entlastet die einzelnen Behandler/ Behandlerinnen und nützt den Patientinnen, aus „nervenden“ Patientinnen werden interessante Persönlichkeiten.

Zusammenfassung

Somatoforme Schmerzen, d.h., chronische Schmerzsyndrome ohne eindeutiges körperliches Korrelat, sind eine besondere Herausforderung in der ärztlichen Praxis. Sie treten bei Männern wie bei Frauen auf, aber Frauen berichten doppelt bis dreifach so häufig darüber,  d.h. es ist ein typisches „Frauen-Thema“. Wichtig ist eine konsequente bio-psycho-soziale Haltung von Anfang an, um der Multidimensionalität sowohl der Ursachen wie auch der möglichen Behandlung Rechnung zu tragen. Von besonderer Bedeutung und gleichzeitig schwierig ist der Aufbau einer tragfähigen verlässlichen Beziehung.
Im Beitrag soll beispielhaft auf die psychosomatischen Aspekte beim chronischen Unterbauchschmerz der Frau eingegangen werden, einem in der hausärztlichen wie in der gynäkologischen Praxis sehr häufigen Syndrom, für das in 60 bis 80 % die Diagnosekriterien der somatoformen Schmerzstörung zutrifft. Haus- und Frauenärzte/-ärztinnen mit psychosomatischer Grundversorgung haben die Chance, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen und eine (iatrogene) Chronifizierung zu verhindern. Der Schwerpunkt liegt auf der adäquaten Kommunikation, der Einschätzung des Schweregrades und der darauf  basierenden abgestuften multimodalen Therapie.

Schlüsselwörter
Somatoforme Schmerzstörung, Chronischer Unterleibschmerz (CUS), Psychosomatik

Korrespondenzadresse

Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin / Psychotherapie
Hindenburgstraße 26
37154 Northeim
T +49 5551 3483
E  ClaudiaSchumann@t-online.de
www.dr-claudia-schumann.de

Slide Gyne 02/2016 Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Literatur

  1. Egle UT, Nickel R. Kindheitsbelastungsfaktoren bei Patienten mit somatoformen Störungen. Z Psychosom Med Psychoanal 1998; 44: 21–36
  2. Latthe P et al., WHO systematic review of prevalence of chronic pelvic pain: a neglected reproductive health morbidity: systematic review. BMJ 2006b; 332,749–755
  3. Siedentopf F, Chronischer Unterbauchschmerz. In: Weidner K, Rauchfuß M, Neises M (Hrsg.). Leitfaden psychosomatische Frauenheilkunde, Köln, Deutscher Ärzte-Verlag 2012
  4. Hausteiner-Wiehle C, Schäfert R, Häuser W, Herrmann M, Ronel J, Sattel H, Henningsen P (Steuerungsgruppe): S3-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden, AWMF-Reg.-Nr. 051/ 0001,  Kurzfassung.  Stuttgart  Schattauer Verlag  2012
  5. Schaefert R, Hausteiner-Wiehle C et alt. Klinische Leitlinie: Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden. Dtsch Ärztebl 2012; 47: 803–813
  6. Siedentopf F, Kölm P, Kentenich H. Chronischer Unterbauchschmerz der Frau, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe  Berlin 2011, Verlag S.Kramarz
  7. Siedentopf  F. Chronische Schmerzsyndrome in der gynäkologischen Praxis: Endometriose und Fibromyalgiesyndrom. Geburtsh Frauenheilk 2012;72: 1092–1098
  8. Mark H et al. Gynecological symptoms associated with physical and sexual violence.
    J Psychosom Obstet Gynaecol 2008; 29: 164–172
  9. Meltzer-Brody S et al. Trauma and posttraumatic stress disorder in women with chronic pelvic pain. Obstet Gynecol 2007; 1: 7–32
  10. Rapaehl Kg, Widom CS, Lange G. Childhood victimization and pain in adulthood: a prospective investigation. Pain 2001; 92: 283–293
  11. Hennigsen P, Zipfel S, Herzog W. Management of functional somatic syndroms. Lancet 2007; 269: 946–55
  12. Meiser E.M. Rehabilitation somatoformer Schmerzen bei komorbider Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS).  Ärztliche Psychotherapie 2009; 4: 164–166

Pille danach – 2015

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DGPFG-Stellungnahme
Pille danach: Was zählt ist die Zeit!
21.01.2015

Frauenärztinnen sind nicht klüger als ihre Patientinnen

Wenn die Pille danach ohne Rezept in der Apotheke erhältlich ist, spielt die Kompetenz der Frau eine noch größere Rolle. Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) setzt auf die Eigenverantwortung der Frau und tritt für eine umfangreiche Beratung ein.

Northeim/Hamburg, 21. Januar 2015

„Wir müssen dafür sorgen, dass jede Frau und jedes Mädchen weiß: Wenn etwas in der Verhütung schief geht, muss ich mir schnellstmöglich die Pille danach holen“, betont Dr. Claudia Schumann, Frauenärztin und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG). Eine ausführliche Kontrazeptions-Beratung in der frauenärztlichen Sprechstunde sieht sie als bestmögliche Grundlage: Gut informiert können Frauen selbst erkennen, wie sie sich schützen können und wann sie sich Sorgen machen müssen, ungewollt schwanger geworden zu sein. „Da die Wirkung der Pille danach entscheidend davon abhängt, dass sie möglichst schnell nach dem ungeschützten Verkehr eingenommen wird, begrüßen wir die mit der Rezeptfreigabe verbundene Erleichterung des Zugangs“, so die Gynäkologin.

Gerade junge Frauen würden oft aus Scham den rechtzeitigen Gang in die Notfallambulanz scheuen, wenn ihr Frauenarzt nicht verfügbar sei, weiß Dr. Wolf Lütje, Chefarzt einer Hamburger Frauenklinik und Präsident der DGPFG: „Damit geht Zeit verloren!“

Viele Frauenärztinnen und -ärzte bedauern, dass die Chance für die ärztliche Beratung bei der Notfall-Kontrazeption mit der Rezeptfreigabe entfällt. Diese Beratung kann einer Frau bei der Entscheidung helfen, ob sie die Pille danach wirklich nehmen muss. Außerdem ermöglicht sie das Ansprechen anderer Probleme. Da aber bewiesen sei, dass die Pille danach ungefährlich und kaum mit Nebenwirkungen behaftet sei, sei selbst eine „unnötige Einnahme“ kein Problem, so Dr. Schumann. „Es gilt: Lieber einmal zu oft genommen – als zu spät oder gar nicht!“ Und natürlich kann auch nach der Rezeptfreigabe jede Frau, die Fragen zur Notfall-Verhütung hat oder sich Sorgen um eine Infektion macht, weil das Kondom gerissen ist, zum Frauenarzt/zur Frauenärztin gehen.

Darauf müssen auch Apothekerinnen und Apotheker hinweisen, die ab März die Pille danach abgeben werden. „Für weitere Kontroversen zwischen Ärzten und Apothekern ist jetzt keine Zeit“, betont Dr. Wolf Lütje. „Wir müssen zusammen dafür sorgen, dass ungewollte Schwangerschaften sicher verhindert werden!“ Die Apothekerinnen und Apotheker verfügen über ein breites pharmakologisches Wissen und über Beratungserfahrung. Natürlich ist die Notfall-Kontrazeption eine besondere Situation, die spezialisiertes Wissen und besonderes Einfühlungsvermögen verlangt. Die DGPFG bietet daher an: „Für die geplanten Schulungen der Apothekerverbände stellen wir gern unser frauenärztliches Wissen und unsere psychosomatische Beratungskompetenz zur Verfügung.“

Ansprechpartnerin
Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin/Psychotherapie
Vizepräsidentin der DGPFG (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde)
Hindenburgstraße 26
37154 Northeim
T +49 5551 4774
F +49 5551 2115
M +49 170 7322580

 

Ansprechpartnerin

Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin/Psychotherapie
Vizepräsidentin der DGPFG (Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde)
Hindenburgstraße 26
37154 Northeim
T +49 5551 4774
F +49 5551 2115
F +49 170 7322580

 

Slide DGPFG-Stellungnahme Pille danach

Social Freezing – 2014

http://dgpfg.de/dlt/dlt/wp-content/uploads/sites/4/2017/02/dgpfg-stellungnahme-social-freezing-2014.pdf

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DGPFG-Stellungnahme
Social Freezing

17.10.2014

„Social freezing“ – ein familienpolitisches Desaster und medizinisch nicht akzeptabel!

Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) warnt vor einer unüberlegten Zustimmung zu einer „arbeitgeberfreundlichen“ Familienplanung, die das Selbstbestimmungsrecht von Frauen aushöhlt.

Hamburg, 17. Oktober 2014

Karriere und Kinderkriegen verträgt sich nicht „nebeneinander“, wenigstens nicht für Frauen. Also einfach „nacheinander“? Dagegen spricht die Biologie, denn Frauen über 35 Jahre haben weniger Chancen schwanger zu werden. Der medizinische Fortschritt verspricht Abhilfe: Eizellen mit 25 Jahren einfrieren, um sie mit 40 zu nutzen. Ist diese Entwicklung tatsächlich ein weiterer Schritt für die Selbstbestimmung von Frauen, ein Ausweg aus dem Dilemma?

„Social freezing“ erzeugt Druck auf junge Frauen 

Dr. Claudia Schumann, Vizepräsidentin der DGPFG, sieht die Kehrseite der Medaille: „So belastend ein unerfüllter Kinderwunsch ist, gerade wenn sich die Frau erst spät an die Realisierung gemacht hat, so kann das sogenannte „social freezing“ nicht die Lösung sein. Dieses Angebot verstärkt den Machbarkeitswahn, dass gesunde Kinder einfach organisierbar sind. Mit dieser Aussicht werden in Zukunft die Anstrengungen eher reduziert werden, gemeinsam die Chancen für eine Vereinbarung von Beruf und Kindern zu verbessern. Dies gilt für Frauen wie für Männer. „Social freezing“ setzt Frauen noch mehr unter Druck, ihre weiblichen Seiten zu verdrängen und zu funktionieren“.

Medizinische Optionen werden fehlgeleitet
Die Methode, Eizellen zu konservieren, wurde primär für jüngere Frauen entwickelt, die sich einer aggressiven Krebsbehandlung unterziehen mussten. Da bei einer Bestrahlung oder einer Chemotherapie oft die Eierstöcke irreversibel geschädigt werden, wurden einzelne Eizellen bei ihnen vor der Behandlung entnommen und auf Eis konserviert („freezing“), um sie dann nach der Gesundung und bei späterem Kinderwunsch nutzen zu können. In diesen Fällen ist der Vorgang also eine gute Methode, die sicher auch die Genesung positiv unterstützt.

Da bekannt ist, dass die weiblichen Eizellen auch einfach durch das „Älterwerden“ der Frau Schaden nehmen, lag die Idee nicht fern, für diesen Fall vorzusorgen. Das Angebot, bei unerfülltem Kinderwunsch dann einfach auf tiefgefrorene Eizellen zurückzugreifen, die sie sich in jüngeren Jahren hat entnehmen lassen, halten wir aus psychosomatischer Sicht für nicht akzeptabel, zumal er mit durchaus belastenden Eingriffen verbunden ist. Außerdem kann dies junge Frauen massiv unter Druck setzen: Ist es bald beim Vorstellungsgespräch nützlich, ein Zertifikat über eingefrorene Eizellen vorzulegen, um dieselben Chancen wie der männliche Bewerber zu erhalten? Die Option, Kinder nach Plan in die Karriere einzubauen, verspricht mehr Chancen, behindert aber in Wirklichkeit einen selbstbewussten Lebensentwurf.

„Social freezing“ hebelt die Gleichberechtigung aus
Unabhängig von der individuellen Lösungsstrategie droht „social freezing“ die gesellschaftliche Realität zu beeinflussen: Während aktuell viel für das Wahrnehmen der unterschiedlichen weiblichen und männlichen Fähigkeiten zugunsten einer tatsächlichen Gleichberechtigung getan wird, dreht „social freezing“ das Rad wieder zurück: „Frauen sind wie Männer – zumindest bis 40!“ Ist das ein Fortschritt oder ein Alptraum?

Dr. Wolf Lütje, Präsident der DGPFG und Chefarzt einer Hamburger Frauenklinik, warnt: „Wir müssen alle Anstrengungen fördern, dass Frauen frühzeitig ihren Kinderwunsch erfüllen und im Beruf bleiben können. Sie dabei zu unterstützen, ist ein wichtiger gesellschaftlicher Auftrag, der allen nützt. Gerade die Kompetenz und Erfahrung von Müttern, die zielgerichtet Schwerpunkte setzen und ihre Kraft gut einteilen können, möchte ich nicht missen. Späte Mutterschaft ist schön, sollte aber nicht das Ziel sein.“

Ansprechpartnerin
Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin/Psychotherapie
Vizepräsidentin der DGPFG
(Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde)
Hindenburgstaße 26
37154 Northeim
T +49 5551 4774
F +49 5551 2115

 

Ansprechpartnerin

Dr. med. Claudia Schumann
T +49 5551 4774

Slide DGPFG-Stellungnahme Social Freezing

Unwort des Jahres: Kaisergeburt – 2014

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DGPFG-Stellungnahme
Unwort des Jahres: Kaisergeburt

07.01.2014

Man muss sich das wie folgt vorstellen: Ein Operateur bereitet die Bauchdecken der Mutter so vor, dass es hierüber unter Anteilnahme der Eltern zur Pseudo-„Spontangeburt“ des Kindes kommt. Was liegt näher diesen Akt als Chimäre von Kaiserschnitt und Geburt, sprich als„Kaisergeburt“ zu bezeichnen. Völlig losgelöst von den Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, der grundsätzlichen Möglichkeit, dem Sinn und Unsinn, wohlgemeintem oder aber hinterlistigem Ansinnen dieses Vorgehens: Wer solche euphemistischen Neologismen in die Welt setzt, muss sich klar werden, was er damit anrichtet. Zum einen wird sprachlich mindestens eine Gleichstellung der natürlichen und der operativen Geburt geschaffen und damit die Tür geöffnet – auf allen zum Teil noch unerforschten Ebenen bis hin zur Aufklärung – die Spontangeburt als überholt zu verwerfen. Selbst „Geburtserleben“ und „Bonding“ ist nun vollumfänglich im OP gestaltbar und damit ein psychologisches Argument gegen den Kaiserschnitt scheinbar hinfällig geworden.

Kaisergeburt suggeriert aber auch, dass es unkaiserliche Geburten geben muss.

Sind das dann „Bettlergeburten“ bei denen Frauen all der Ungemach von Schmerz, Angst und Erschöpfung zugemutet wird, weil man ihnen das kaiserliche Gebären versagt??

Es wundert mich nicht, dass es Geburtsmediziner und nicht Psychosomatiker sind, welche solche Ideen entwickeln. Letztere können in Anbetracht solcher Surrogate nur warnend den Finger heben. Es gibt keinerlei Forschung, ob das direkte Erleben der Schnittentbindung nicht sogar nachteilige, möglicherweise sogar traumatisierende Effekte hat. Die Spontangeburt ihres Kindes kann eine Frau regelhaft auch nicht beobachten, und das wird seinen Sinn haben. Ob dieser „Ausgleich“ für entgangenes Geburtserleben demnach nicht sogar ein trojanisches Pferd ist, weiß kein Mensch.

Hinzu kommt, dass die „Kaisergeburt“ Zeit und Planbarkeit voraussetzt. Das kommt den organisatorischen Nöten von Klinikbetrieben entgegen, welche mit der Philosophie der Kaisergeburt ein psychologisches Deckmäntelchen bekommen. Folge der Planung sind aber auch mehr anpassungsgestörte Säuglinge, denen eine Kaisergeburt eher die Trennung von den Eltern beschert, denn ein unmittelbares Bonding. Alles hat eben seinen Preis!

Nebenbei sei bemerkt, dass zunehmend auch andere Bereiche der Psychosomatik missbraucht werden. Geburtsängste werden hochgespielt und mit dem Lösungsansatz „Kaiserschnitt“ instrumentalisiert. Dabei lassen sich diese Ängste besprechen und behandeln. In den seltensten Fällen ist die Sektio eine echte Lösung.

Fazit: Ein Kaiserschnitt wird nie etwas anderes sein als eine operative Geburt, zukünftig wahrscheinlich die mit Abstand häufigste Operation am offenen Bauch weltweit. Nichts spricht gegen das Ausschalten der OP-Leuchten und das unmittelbare und langzeitig ungetrennte Bonding im OP. Kein Mensch muss hingegen die Geburt aus der Bauchdecke sehen. Und Säuglinge wünschen sich eine babybestimmte Geburtshilfe, die den Kaiserschnitt als segensreichen, gerne auch psychologisch motivierten Notfalleingriff versteht.

Wolf Lütje

Ansprechpartner

Dr. Wolf Lütje
Präsident der DGPFG

Ev. Amalie Sieveking-Krankenhaus
Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe
Haselkamp 33
22359 Hamburg

T +49 40 64411-421
F +49 40 64411-312
E w.luetje@amalie.de

Slide DGPFG Stellungnahme Unwort des Jahres Kaisergeburt
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