Faktoren bei Nichtanwendung [21]
- psychosoziale Erreichbarkeit
- Reale und phantasierte Nebenwirkungen
- Unterschätzung der Unannehmlichkeit aller Verhütungsmethoden
- Psychologische Ursachen für Nichtanwendung
- Bindungswunsch
- Verleugnung der Realität einer Schwangerschaft
- Liebe
- Sexueller Identitätskonflikt
- Schuldgefühle/Scham
- Nihilismus
- Iatrogenese
Nach wie vor werden Fragen, Ängste und Unsicherheiten zum Einfluss der Kontrazeptiva auch heute von unseren Patientinnen an uns herangetragen. Und nach wie vor wirkt sich Ambivalenz als Grundkonflikt der Trennung von Sexualität und Fruchtbarkeit als Hindernis für eine rundum konsequente Verhütung aus: Ein großer Teil der Schwangerschaften tritt weiterhin ungeplant ein und auch die beschriebenen Nebenwirkungen treten weiter auf [22, 23].
Hinsichtlich der Langzeitkontrazeptiva, die aktuell verstärkt beworben werden, wäre es interessant, ihre Auswirkungen auf Zyklusverständnis, Kinderwunsch und Sexualität zu untersuchen, denn in der Sprechstunde ist die Unsicherheit im Umgang mit physiologischen Zyklusabläufen (Ovulationsschmerz, Veränderung des Cervixschleims) nicht selten Thema und Anlass für eine gewünschte ärztliche Beratung und Untersuchung wegen befürchteter krankhafter Prozesse.
Wichtige Veränderungen der Verhütung, die sich in den vergangenen Jahrzehnten ergeben haben, möchte ich hier als Thesen vorstellen [8]:
- Der Bedeutungsgehalt der Pille und anderer hormoneller Antikonzeptiva hat sich in Richtung Lifestyle-Medikament mit der Folge selbstverständlicher Einnahme bzw. Anwendung auch ohne aktuellen Verhütungsbedarf verändert.
- Der Umgang mit Fruchtbarkeit und Verhütung ist – durch die Entwicklung von Methoden, die keine oder nur eine geringe Compliance fordern – einfacher, instrumenteller und rationaler geworden; er bedingt aber auch neue Unsicherheiten im Umgang mit dem Zyklus.
- Die Wahlfreiheit des Kinderwunsches kann zum Planungszwang werden – mit der Folge, dass aus temporär gewollter Kinderlosigkeit nicht selten eine andauernd ungewollte wird.
- Die psychosomatische Verhütungsberatung ist ein wichtiger Aspekt zur Förderung der Compliance und damit zur Verbesserung der kontrazeptiven Sicherheit; sie trägt außerdem zur beiderseitigen Zufriedenheit von Patientin und Arzt/Ärztin bei.
Der Hinweis auf die Bedeutung der Arzt-Patienten-Beziehung für die Compliance und die Forderung nach einer besseren Beratung und Betreuung ist nicht neu [6, 24].
Das Verständnis einer solchen Beratung geht über die reine Information und die Aufklärung zu Vor- und Nachteilen der Methoden, zu Anwendungsdetails, Risiken und Nebenwirkungen hinaus. Hilfreich als Grundlage für jede Beratung ist das Material der BzgA als Print- und Onlineausgabe [25], das die Beratung zeitlich und inhaltlich entlastet und in keiner Praxis fehlen sollte, die persönliche ärztliche Beratung aber nicht ersetzt.
Aufgaben in der Psychosomatischen Verhütungsberatung
Lotse – Informationsfilter und -führer
Voraussetzungen sind dafürKenntnisse über alle Kontrazeptiva und ihre jeweiligen Vor- und Nachteile sowie die Fähigkeit zur patientenzentrierten Kommunikation zur Vermittlung von Informationen.
Nach einer Repräsentativbefragung der BzgA aus dem Jahre 2003 [17] zum Verhütungsverhalten Erwachsener wurde bei der Frage, über welche Personen oder Medien die Befragten am liebsten weitere Informationen zur Empfängnisverhütung erhalten würden, an erster Stelle (mit 69 %) der Arzt/die Ärztin genannt; von Frauen etwas mehr als von Männern. Erst an 5. Stelle wurde das Internet und völlig abgeschlagen die Gespräche mit Freunden und Verwandten genannt. Diesen Vertrauensvorschuss gilt es zu nutzen.
Der Wissenszuwachs und die Informationsflut zum Thema „Verhütung“ seit Einführung der Pille 1960 ist nahezu unüberschaubar. Heute stehen unzählig viele Präparate unterschiedlicher Zusammensetzung und Dosierung zur Verfügung, von Generika mit fast täglich neu auftauchenden Namen und unterschiedlichen Preisen bei gleicher Zusammensetzung ganz zu schweigen; auch für Fachleute ist es da nicht mehr selbstverständlich, den Überblick zu behalten.
Wieviel stärker Patientinnen sich in dieser Informationsflut zurechtfinden müssen und im Angebot von Internet, Orientierungen in Peer-groups, Ansprachen durch Pharmafirmen etc. Orientierung und Informationskanalisierung benötigen und wünschen, drückt die oben beschriebene Vertrauensfrage nach der primären Ansprechperson aus, die offensichtlich für die meisten nach wie vor der Frauenarzt /die Frauenärztin ist.
Für Beratungen zur Kontrazeption fehlen bisher evidencebasierte Leitlinien, die für andere Fachgebiete selbstverständlich sind [26]. So spielen offensichtlich persönliche Erfahrungen der Berater – und damit auch ihr Sozialstatus – eine größere Rolle bei der Empfehlung und Verschreibung von Antikonzeptiva als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, wie eine Schweizer Studie belegt [27]. Nicht zuletzt hängt die Verordnung aber auch von den sehr unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Patientin ab.
Beratung zur Verhütung braucht aber auch Zeit, um die Vorstellungen der Patientin, ihren Wissensstand und ihre „innere Informations-Datenbank“ kennenzulernen. Verhütung ist nicht nur ein Wissens- sondern auch Verhaltenslernen, also z.B. für junge Frauen zu lernen, regelmäßig täglich die Pille einzunehmen [24]. Ebenso ist es wichtig, Informationen sachlich-korrekt in die Vorstellung der individuellen Frau einzuordnen, denn Fehlinformationen, falsch verstandenes und Halbwissen sind gerade hier weit verbreitet, rationale Argumente und irrationale Befürchtungen oft vermischt („eingewachsene Spirale“, „TROPIS“ : Schwangerschaften trotz regelmäßiger Pilleneinnahme“, kontrazeptive Sicherheit in der postmenstruellen Phase etc.).
Und auch eine immer detailliertere Aufklärung trägt nicht in jedem Fall zur Verbesserung der Compliance bei: Dabei ist an die Paradoxie der Bewerbung der Pille als Lifestylemedikament einerseits und Ausmaß und Inhalt jedes Beipackzettels eines Ovulationshemmers andererseits zu denken.
Korrektiv (individuell und gesellschaftlich)
Voraussetzung hierfür ist die Reflexion eigener Einstellungen zu Sexualität, Fruchtbarkeit und Kontrazeption.
Haben wir als Frauenärzte/-innen auch korrektive Aufgaben in der Verhütungsberatung? Steht es uns zu oder ist es sogar unsere Aufgabe, Lebensvorstellungen und Planungen unserer Patientinnen zu thematisieren, geäußerte Zwänge zu hinterfragen und damit Mitgestalter sowohl an der individuellen Lebensplanung der Frau als auch am demografischen Wandel der Gesellschaft zu sein, wie in der langen Geschichte der Empfängnisverhütung immer wieder einmal vermutet, gefordert oder auch befürchtet wurde [14]?
Vor längerer Zeit thematisierte Gerda Enderer-Steinfort [28] kritisch und sarkastisch unseren ärztlich-blinden Fleck bei der heutigen Verhütungsberatung als gedankenlose und unreflektierte Erfüllungsgehilfen, wenn wir den Wunsch der Patientin nach absolut sicherer Verhütung bis zum optimalen Zeitpunkt für das dann perfekt geplante Wunschkind unhinterfragt durch die jahrelange unkommentierte Pillenverschreibung unterstützen. Die Gründe für das häufige und längere Aufschieben der ersten Schwangerschaft sind meist komplexer Natur [29]; sie erschließen sich kaum einer rationalen Argumentation oder kurzen Intervention „zwischen Tür und Angel“ während der Ausstellung eines Pillenrezeptes.
Die Frage ist jedoch berechtigt, welche Botschaft mit dem Versprechen von optimaler Verhütungsplanung heute transportiert wird und wie wir als beratende ÄrztInnen damit umgehen. Denn Verhütung heißt heute viel weniger eine bewusste Entscheidung gegen eine Schwangerschaft aus existentieller Notwendigkeit für eine begrenzte Lebenszeit, sondern vielmehr ein Instrument zur optimalen Lebensplanung – verbunden mit dem Paradigma von Autonomie und Freiheit. Wie schwer es offenbar ist, dieser Lebensvorstellung mit einer selbstbestimmten, eigenverantworteten Entscheidung bewusst Grenzen zu setzen, wird mitunter spürbar: Manja, eine 35-jährige Patientin benannte es so: „Als Frau hat man ein Instrument in der Hand, dass es einem erlaubt zu bestimmen, dass man schwanger wird – man verdrängt es oft“.
Das Verdrängen der existentiellen Dimension der Verhütung begegnet mir in der Sprechstunde nicht selten – und führt ebenfalls nicht selten zur Sprachlosigkeit zwischen den Partnern und dazu, dass der durchaus und grundsätzlich vorhandene Kinderwunsch unbestimmt und unbewusst über lange Zeit in der Schwebe gehalten wird. Mit der Sprachlosigkeit wird für die Frau/das Paar eine Auseinandersetzung, aber auch eine Klärung der eigenen Lebensvorstellungen, der Verantwortung dafür und ihrer Grenzen vermieden. Sprachlos und damit unbenannt bleiben auch die Möglichkeiten zur Reifung an diesem Konflikt oder zum Wechsel der Perspektive mit dem Blick auf das Kind [30].
Grenzen sind notwendig zur Auseinandersetzung und Reifung. Für offensichtlich nicht wenige Frauen gilt die biologische Grenze für die Fruchtbarkeit mit 35 Jahren als erstmaliger Anlass, sich mit dem Kinderwunsch überhaupt auseinanderzusetzen (Zitat einer Patientin:
„Die Zeit bis 35 gönne ich mir“); wie wir wissen, hält solche Überschätzung von Fertilitätschancen der Wirklichkeit in vielen Fällen nicht stand.
Wir kennen sicher alle Frauen, die – langjährig in fester Beziehung und mit gesichertem Arbeitsverhältnis lebend – ihren bevorstehenden Kinderwunsch immer wieder einmal bei der Krebsfrüherkennungsuntersuchung thematisieren und erfragen, was an Vorbereitungen dazu sinnvoll und nötig ist, aber dann doch jährlich wieder das Pillenrezept mitnehmen und versichern, dass „es“ noch nicht soweit sei…
Die Fragen nach diesem „es“, nach dem vorgestellt richtigen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft und danach, worauf eigentlich gewartet wird – mit respektvoller Neugier und Empathie von uns gestellt – kann die Sprachlosigkeit beenden. Mitunter werden die eigenen Ambivalenzen der Frau, andere Vorstellungen des Partners, tiefergreifende Partnerschaftskonflikte oder auch die Grenzen einer optimalen Lebensplanung und der ebenso begrenzt eigenen Verantwortung dafür erstmals bewusst und benannt.
Es ist spannend und braucht eine vertrauensvolle Beziehung, die Frage nach der Familienplanung in der Sprechstunde zu thematisieren und damit zu erfahren, wie individuell die einzelne Frau die Spannung zwischen Planung und Offenheit für sich erlebt und damit umgeht: nicht selten ist es das erste Mal, dass sie ihre eigene Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit dabei überhaupt wahrnimmt und für sich reflektiert, so äußern es nicht wenige Frauen selbst. (Zitat einer kinderlos gebliebenen Frau: „Ich habe mich nie gegen ein Kind entschieden; das Problem ist: ich habe mich nie bewusst dafür entschieden“)
Kaum einmal wird thematisiert – und auch diese Wahrnehmung gehört zur korrektiven Aufgabe innerhalb der Gesellschaft –, dass wir ohnehin nur den „privilegierten“ Teil der Frauen beraten, die sich Verhütung überhaupt leisten können und wollen – das betrifft nach meinem Verständnis nicht nur reale finanzielle, sondern auch bildungsmäßige Armut, also fehlende Teilhabe an der Gesellschaft und der eigenen Zukunftsgestaltung.
K. Leithner-Dziubas [21] spricht von „Nihilismus“ als einen Grund für fehlende Verhütung: Wenn Gefühle von Apathie, Hoffnungslosigkeit und realer Armut ohne Veränderungsmöglichkeiten überwiegen, fehlt der Versuch, ungewünschte Schwangerschaften überhaupt zu verhindern.
Junge schwangere Patientinnen und ihre Partner – beide arbeitslos, ohne beruflichen Abschluss und ohne Bildungs- oder Arbeitschancen (oder -willen) betreuen wir in der Praxis nicht selten: Verhütungsberatung mit Stärkung einer grundsätzlichen Motivation zur Antikonzeption ist hier unbedingte Notwendigkeit. Bedrückend ist und bleibt es, wenn – trotz sichtbarer Überforderung von beiden Partnern – nach mehr oder weniger kurzer Zeit erneut eine Schwangerschaft eingetreten ist, weil sichere Verhütung nicht genutzt wurde, nicht ausreichend zur Verfügung stand, oder als zu teuer erlebt wird. Letzteres betrifft auch den Sterilisationswunsch mancher Frau, die realistisch jede weitere Schwangerschaft als Überforderung für sich einschätzt und die irreversible Verhütung als sinnvollen Weg sieht; es gibt jedoch keinerlei finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten dafür oder auch für Verhütungsmittel überhaupt, während die Kostenerstattung für einen Schwangerschaftsabbruch erheblich großzügiger gehandhabt wird.
Die Forderung nach sicherer und kostenloser Verhütung für Frauen und Paare mit einem geringen Einkommen als Sicherung eines existenziellen Menschenrechtes, ist deshalb auch ein zutiefst psychosomatisches Anliegen und sollte unsererseits unterstützt werden.
Begleiter/-in Gesprächspartner/-in und Vertrauensperson
Voraussetzung hierfür ist die Gesprächsbereitschaft der Patientin.
Wie befriedigend, schön und spannend es sein kann, in langjähriger Praxistätigkeit als niedergelassene Frauenärztin/Frauenarzt eine Patientin über viele Jahre hinweg in ihrer Fruchtbarkeit zu begleiten, durch freud- und leidvolle Zeiten, ist keine neue Erfahrung, sie sollte aber wieder einmal ins Bewusstsein geholt werden.
Es ist kein selbstverständlicher Vertrauensvorschuss, wenn uns Frauen durch die Verhütungsberatung Einblick in ihre jeweilige Lebens- und Beziehungssituation geben, uns Anteil nehmen lassen an ihren Vorstellungen von Sexualität und Familienplanung.
Und es ist auch unsererseits keine Selbstverständlichkeit, den damit verbundenen Erwartungen an uns immer gerecht zu werden. Gerade angesichts der immer weiter beschnittenen Ressourcen an Zeit für Gespräche und der fehlenden finanziellen Anerkennung für diese anspruchsvolle Beratungsaufgabe, ist es wichtig, eigene Sensibilität und Wertschätzung dafür zu stärken und einzufordern, um Zufriedenheit, einen inneren Freiraum und Phantasie zu behalten: alles Dinge, die in der Verhütungsberatung auch einen Platz haben oder finden sollten.
Bereits vor Jahrzehnten hat Nijs [11] darauf hingewiesen, dass zur Erfüllung dieser Aufgabe der Verhütungsberatung neben der Gesprächsbereitschaft seitens des Arztes/Ärztin eben auch Zeit und eine entsprechende Atmosphäre gehört – Faktoren, die mit vordergründiger Ausrichtung auf Wirtschaftlichkeit und Effektivität in unseren heutigen Sprechstunden schwer zu vereinbaren sind.
Viel mehr kommt es auf die Zwischentöne, das genaue Zuhören, auf Intimität, Gelassenheit, Geduld und auf das Erfassen und das passende Ansprechen des Nicht- Gesagten, das nonverbal mitschwingt, an.
Unsere Aufgabe ist es, die Patientin in ihren Überlegungen zur Verhütung wertfrei und akzeptierend wahrzunehmen und ihre Entscheidungen zu respektieren. Dazu gehört auch, sie gerade in widersprüchlichen Zeiten bezüglich der eigenen Fruchtbarkeit zu verstehen, Ambivalenzkonflikte mit auszuhalten und sie ihnen in angemessener und verständlicher Weise bewusst zu machen: Voraussetzung dazu ist, dass wir sie selbst erkennen und darüber hinaus die eigenen Ambivalenzen dazu reflektiert haben [7].
Wenn das gelingt, ist nicht nur die Verhütungsberatung wieder ein lustvoller Teil unserer Arbeit, sondern dieses Verständnis setzt sich in der Begleitung der Schwangerschaften – glücklich oder leidvoll – in der Geburtsvorbereitung, beim Übergang zur Elternschaft, bei Lebens- und Partnerschaftskonflikten, später auch beim Beginn des Klimakteriums, im Alter und ebenso bei schweren Erkrankungen und deren Begleitung fort.
„Antikonzeptives Councelling ist die Begleitung des Paares durch die ganze fruchtbare Lebensphase in der Gestalt einer langen Reihe von Kurzgesprächen“ [15].